Heinz Müller 1964
Heinz Müller 1964

Ein weiterer Blick auf die Anfänge 1922 / 1923
Heinz Müller

Zu Ostern 1923 hatte Heinz Müller noch keine Nachricht erreicht, ob Rudolf Steiner ihn in einer Waldorfschule einzusetzen gedächte. So fuhr er zu einem Jugendtreffen nach Bad Berka. Am vorletzten Tag des Zusammenseins hatte Heinz Müller das Gefühl, er müsse schnellstens nach Hause zurück. Sein rascher Abschied hinterließ einen Schwall von Mißbilligung. Er erreichte nach hastiger Wanderung noch eben den Zug. Zu Hause lag ein Telegramm: "Wir erwarten Sie dringend zum Vorstellen als Lehrer in der Freien Goethe Schule in Wandsbek. Unterschrift: Dr. Kändler"
Wandsbek? -aha: preußischer Vorort Hamburgs. Am nächsten Morgen soll um 5 Uhr ein Zug nach Hamburg gehen. Von 7 Uhr abends bis 4 Uhr morgens diktierte und erläuterte Heinz Müller einer Freundin die Notizen zur Examensarbeit. Sie war bereit, die Arbeit fertig zu stellen und pünktlich für ihn abzugeben. Knapp erreichte Heinz Müller den Zug und fand endlich Zeit, den versäumten Schlaf nachzuholen.


"Nachmittags gegen 3 Uhr kam ich dort an, erkundigte mich nach der Verbindung nach Wandsbek, fuhr mit der Vorortbahn bis Wandsbeker Chaussee, fragte mich durch nach der Jüthornstraße und fand die Nummer 4a mit einem kleinen Schildchen im Garten "Freie Goethe Schule Hamburg-Wandsbek". Da stand ich also vor einer Art Villa, einem Gartenhause im Stile, wie man etwa um die Jahrhundertwende gebaut hatte. Ich kam an die Tür, und da war jemand, eine verhältnismäßig kleine, einfach angezogene Frau, damit beschäftigt, die Eingangsstufen zu scheuern und den Vorraum schön sauber zu machen. Ich fragte sie, ob hier Dr. Kändler wohne. "Ja", sagte sie, "mein Mann ist oben!" Als ich die Verhältnisse später übersah, da wusste ich: Um einen Dienst an der Schule zu leisten, spielte sie Reinmachefrau, wenn der Unterricht beendet war. Ich trat herein in einen kleinen Flur, von dem aus eine Treppe nach oben ging. Oben konnte man ü ber das Geländer zwei vergnügte Köpfe sehen, einen jungen Menschen, vielleicht einen Studenten und ein junges Mädchen, so etwa 18 Jahre alt. Die beiden mussten mich schon haben kommen sehen, mich bunten Wandervogel. Als ich heraufkam, prusteten sie los und verschwanden eilig in dem dahinterliegenden Zimmer. Nun, dort klopfte ich, dort würde man sich wohl erkundigen können. Heraus guckte "Thom" Kändler, der damals schon Priester der Christengemeischaft war, wie sich später herausstellte: "Das Arbeitszimmer meines Vaters ist hier nebenan, bitte gehen Sie da herein. Sind Sie eigentlich der neue Lehrer für unsere Schule?" - "Ja, vielleicht!" - Wieder hörte man drinnen das Glucksen und Lachen von Ilse Kändler, seiner Schwester, wie ich dann erfuhr, und er verschwand, sich das Lachen verbeißend, schleunigst wieder hinter der Tür. - Dr. Kändler war eine wirklich imponierende Erscheinung. Er hatte leicht gelocktes, bereits graumeliertes Haar und ein gütiges, sinnendes Auge. Er war ein Mensch, zu dem man sofort das allergrößte Vertrauen in sich spürte. Er reichte mir die Hand sehr freundlich, und ich war überrascht, wie zart und gegliedert diese war, wie auch die ganze Gestalt. Er rief seine Frau herauf, stellte mich ihr vor, und wir saßen in kürzester Zeit zu viert gemeinsam am Familientisch. "Nun", begann er, "will ich Ihnen zunächst erzählen, wie ich darauf gekommen bin, Ihnen das Telegramm zu schicken. Mir hatte Dr. Steiner gesagt bei der Delegiertenversammlung, bei der Sie ja auch waren, - denn ich kann mich noch ganz gut erinnern, daß ich Sie in Ihrer bunten Kluft da schon gesehen habe -, er würde mir zu Ostern jemanden nennen, der an unsere Schule kommen könne. - Weil nun aber die Nachricht immer ausgeblieben sei, habe er sich auf die Bahn gesetzt und sei nach Stuttgart gefahren, um Rudolf Steiner selbst zu fragen, und der hätte gesagt: "Dann schreiben sie einmal" - dabei hätte er in sein Notizbuch gesehen - "an Heinz Müller, Jena, Lutherstraße 2, II." Dr. Kändler habe sich bedankt, aber dann zweifelnd gefragt, an wen er sich denn wenden solle, wenn der Herr Müller nicht kommen könne. Es sei ja schließlich schon ziemlich spät, in Kürze würde das neue Schuljahr beginnen. Rudolf Steiner, als ob er es nicht gehört hätte, was die Frage bedeutete, antwortete: "Schreiben Sie nur an Heinz Müller, Jena, Lutherstraße 2." - Ja, Herr Doktor, das habe ich wohl verstanden, aber an wen soll ich mich wenden, wenn der nicht kann?" - "Nun, so schreiben Sie doch erst einmal an ihn!" Und da sei ihm dann nichts anderes übrig geblieben, als sich an mich zu wenden, und er glaube, Rudolf Steiner werde gewußt haben, warum er so eindrücklich mich hierher geschickt habe, und ob ich zusagen würde. Selbstverständlich sagte ich zu, denn ich hatte mich Rudolf Steiner gegenüber dahingehend ausgesprochen, daß ich hinginge, wohin er mich schicken würde. Dann aber drängte sich mir die Frage auf: "Wie kommt es eigentlich, daß hier eine Schule existiert, wo ist die?" - " In der Schule befinden Sie sich!" - Ich sagte: "Hier im Hause?" - "Ja, unten sind drei Räume, die können wir uns nachher gleich ansehen!" Da es sich aber herausstellte, daß ich nichts über die Schulgründung wußte, kamen wir erst einmal darüber ins Gespräch. So erfuhr ich, daß der Bauingenieur Hans Pohlmann, stark beeinflußt von seiner Gattin Emmy Pohlmann, sich Rudolf Steiner gegenüber verpflichtet hatte, für die ersten Jahre ein Schulhaus (seine private Villa) für 2-3 Klassen zur Verfügung zu stellen. Außerdem hatte er die Lehrergehälter für 4 Kollegen innerhalb der nächsten drei Jahre garantiert und darüber hinaus sich verpflichtet, ein neues Schulhaus zu errichten, in welchem 8 Volksschulklassen, ein Sing- und ein Eurythmiesaal von vornherein ausgebaut sein sollten. Das Gelände sollte so umfangreich sein, daß ein weiterer Aufbau der Schule bis zur 13. Klasse möglich sein könnte. -
Nun aber gingen wir erst einmal hinunter, um die Schulräume anzusehen. In einem Raum hatte Dr. Kändler seine Klasse von immerhin schon etwas über 20 Kindern. Hier gab er seinen Hauptunterricht, daneben schlecht und recht, wie er meinte, den Französisch-Unterricht, besondere Freude hätte ihm auch der freie christliche Religionsunterricht und der Musikunterricht bereitet. Und damit gingen wir in einen angrenzenden größeren, der von dem Klassenzimmer durch eine Schiebetür getrennt war. Hier standen Klavier und Harmonium für den Musik- und Eurythmieunterricht, und hier hielt Dr. Kändler die Sonntagshandlung für die Kinder, die am freien Religionsunterricht teilnahmen.
Auch die neugegründete Christengemeinschaft, so hörte ich, hielte hier ihre ersten Gottesdienste, solange die Gemeinde noch klein war. Dafür hatte Herr Pohlmann einen Altar gestiftet und so konnte man diesen Sing-, Eurythmie-Saal mit Hilfe einiger schöngefärbter Stoffe, einer Altardecke, dem siebenarmigen Leuchter, dem Christusbild von Leonardo da Vinci in Kürze zu einem Kultraum verwandeln, in dem die Kinder andachtsvoll den Worten des die Handlung haltenden Lehrers oder die Gemeindemitglieder denen des Priesters lauschen konnten. Um dann wieder für den Unterricht Platz zu schaffen, mußten die nicht benötigten Dinge in einem Schuppen im Garten abgestellt werden. So war also alles provisorisch, aber doch auch sehr schön! Dann wurde mir noch mein zukünftiges Klassenzimmer gezeigt. Es war klein, aber ich würde auch vorerst nur 8 Kinder zu betreuen haben. - Nun erzählte auch Ilse Kändler, wie es ihr ergangen war. Sie hatte ihre Eurythmie-Ausbildung bei Lory Maier-Smits erhalten und war von Rudolf Steiner mit ihrem Vater zusammen nach Hamburg zum Aufbau der Schule geschickt worden. Ihr Einwand, sie möchte doch eine Ausbildung an der Kustgewerbeschule noch machen, wurde nicht akzeptiert, denn Rudolf Steiner habe gemeint, dazu wäre jetzt gar keine Zeit. So erteilte sie also den Erythmie-Unterricht und auch die Anfangsgründe in Englisch. Als zur Sprache gekommen sei, daß man keine Handarbeitslehrerin habe, hätte Rudolf Steiner gesagt, diesen Unterricht könne sie doch auch erteilen, das müsse sie können, da sie ja Kunstgewerblerin hätte werden wollen. So seien die Dinge also bei ihr gelaufen.
Dr. Kändler fragte mich nun, in welcher Zeit ich meinen Dienst übernehmen könnte. Ich wollte diesmal nicht so eilig herankommen und bat um eine Frist von 8 Tagen, wenn es bis dahin Zeit hätte, und fragte, wie es mit einer Unterkunft stände. Freundlich lud mich Herr Dr. Kändler ein, vorerst bei ihm zu wohnen, bis ich mir in aller Ruhe ein Zimmer gesucht hätte. "Aber nun," meinte er, "möchte ich Sie doch noch dem Stifter unserer Schule vorstellen. Wir werden Herrn Pohlmann besuchen, er wohnt jetzt in einem neuen Hause bei seiner Fabrik im Osten Wandsbeks." Wir machten uns also auf
den Weg durch das schöne Wandsbeker Gehölz, bis wir in eine trostlose Industriegegend kamen, wo stinkende, wirklich stinkende Fabriken aufgebaut waren. Eine, die nicht besonders auffiel, lag ziemlich tief unten an einigen Teichen, und das war die von Bauingenieur Hans Pohlmann. Er stellte dort sogenannte Thermoskörper her, Bauelemente aus Hohlsteinen von hervorragenden thermischen Eigenschaften. Er hatte großartige Gutachten von verschiedenen wissenschaftlichen Forschungsinstituten und infolgedessen auch eine große Menge von Aufträgen. Die beiden Herren, Pohlmann und Kändler, die die gemeinsame Aufgabe des Schulbaus erstmalig im Leben zusammengeführt hatte, waren inzwischen gute Freunde geworden. Sie begrüßten sich jetzt auf das herzlichste, ich wurde vorgestellt, auch Frau Pohlmann kam hinzu, und so befanden wir uns bald auf einem Rundgang durch das Fabrikgebäude. Und indem Herr Pohlmann auf die Anlagen wies und sich schmunzeld die Hände rieb, sagte er etwa: "Sie sehen also, hier steht eigentlich die melkende Kuh, mit der ich hoffe, Sie und noch einige Lehrer mehr und auch unsere Schule immer besser und besser auf die Beine stellen zu können. - Wir gehen jetzt noch einmal draußen durch den Garten." Frau Pohlmann, die sich ziemlich zurückhielt im Gespräch, hatte aber doch den Wunsch, uns erst noch einmal in die Halle hineinzuführen, in der damals der von Pohlmann und Kändler geleitete Zweig, einer der Hamburger Zweige, regelmäßig seine Abende hielt. Wunderschönes, farbiges Licht fiel durch die Glasfenster herein mit ihren Bilden aus dem Leben des Jesus von Nazareth, Elias, Johannes usw. An den Wänden hingen Bilder in lichter Klarheit der Farben und energischen Formen, großzügig und ein wenig großflächig auch die Holzplastiken die da standen. Da hörte ich zum ersten Male den Namen des Malers, Roberto Sobeczko. Er war einer der jungen Helfer bei den ersten Aufführungen der Mysteriendramen in München gewesen und einer der Schnitzmeister am alten Goetheanum. Ab 1926 wurde er Mal- und Werklehrer an unserer Freien Goethe Schule bis zur Verbotszeit. Es dauerte also noch ein wenig, bis ich ihn selbst kennenlernen sollte.
Inzwischen hatte sich Herr Pohlmann umgezogen und tobte draußen auf dem Rasen mit seinen Sprößlingen herum. Es fanden sich vom Werkmeister und einigen anderen auf dem Gelände wohnenden Familien noch ein paar Kinder dazu, die alle einmal "Goetheschüler" werden sollten. - Dann aber war die Zeit herum, die Arbeiter strömten fort, und ich mußte mich für die Heimfahrt nach Jena rüsten." Heinz Müller: "Spuren auf dem Weg", Seite 71

Bericht von Ilse Kändler
zu 1922 - 1933
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