Ilse Kändler
Ilse Kändler Rolofs
in den 60er Jahren

Von der Entstehung der Goethe Schule in Hamburg-Wandsbek
Ilse Kändler Rolofs

Bei der 50-Jahr-Feier der Wandsbeker Waldorfschule gab ich Mitte Mai 1972 den folgenden Bericht; er möchte deutlich machen, wie individuell und den Menschen und der Zeitsituation angepaßt Rudolf Steiner dabei vorging.
Mein Vater, Dr. Max Kändler, war vor mehr als 50 Jahren Kreisschulrat in Greiz, einem Residenzstädtchen im Vogtland. Landschaftlich hatte dies einen ganz besonderen Reiz mit seiner Umgebung, seinem großen Park und Parksee unterhalb des Schloßberges. Das Schloß lag in sagenumwobenen Wäldern und war von weither zu sehen. In diesem Städtchen und rundherum (Reuß ältere Linie) hatte mein Vater alle Schulen zu betreuen.
Im Sommer mit der Kutsche und im Winter mit dem Pferdeschlitten ging es durch die umherliegenden Dörfer. Oft wurden wir - mein Bruder und ich - dabei mitgenommen. Vater hatte die Angewohnheit, während er in den Dorfschulen hospitierte (auch da durften wir oft mit in die Klassen spazieren), zum Fenster hinauszuschauen. Auf meine Frage, warum er das tue, meinte er: "Dann fühlen sich die Kollegen freier." Immer schaltete er sich helfend ein, wenn der Unterricht zu stocken drohte; oder er übernahm ihn dann auch selbst. Immer ging er mit einem ermunternden, helfenden Wort von dannen. - In der Kriegszeit wollte mancher Lehrer meinem Vater irgendwelche Naturalien mit auf den Weg geben; aber er nahm sie nie an. Das einzige, worüber er sich freute, war ein Blumenstrauß aus dem Schulgarten.
Sehr verbunden war mein Vater vor allem mit den Junglehrern. Er arbeitete mit ihnen Pädagogik und ließ dabei manches Menschenkundliche von Rudolf Steiner einfließen; er war schon zu Anfang des Jahrhunderts durch Michael Bauer zur Anthroposophie gekommen. Dieser nahm ihn auch zu einem Vortrag Rudolf Steiners in Nürnberg mit. Nach diesem ging Rudolf Steiner auf meinen Vater zu und fragte: "Wie hat Ihnen mein Vortrag gefallen?" Darauf antwortete mein Vater: "Ich möchte Mitglied werden!" Und er wurde es. - Es hatte "wie ein Blitz bei ihm eingeschlagen". - In Greiz richtete er mancherlei Kurse ein für Lehrer, Eltern, junge Menschen, junge Mütter, Lehrlinge. Zu der Arbeit zog er Lehrer mit heran, hielt Musikabende, literarische Abende etc. So entstand neues Leben in dem kleinen Städtchen. Für ärmere Kinder richtete er (zusammen mit meiner Mutter) eine Schulspeisung ein, und zu Weihnachten gab es eine Feier mit Geschenken, die ich schon früh mitgestalten durfte. Auch stellte er eine kleine Theatergruppe und eine Volkstanzgruppe zusammen, so daß zu jeder Jahreszeit für die Jugend etwas vorhanden war an Musik, Märchenspielen etc. Uns Wandervögeln verschaffte er einen Raum; er kam manches Mal selbst, um uns Goethe näher zu bringen. Während des ersten Weltkrieges schrieb er viele Briefe an seine jungen Lehrer ins Feld, er stellte diesen Briefwechsel bald zu einem Büchlein zusammen, das er dann den Soldaten hinausschickte.
In all diesen Zusammenhängen wurde er wohl sehr geliebt; viele Menschen kamen mit ihren Kümmernissen zu ihm und er wußte immer Rat. Bei der Revolution 1918 wurde er als einziger "Prominenter" nicht festgenommen.
Von Zeit zu Zeit fuhr mein Vater zu Vorträgen Rudolf Steiners, vor allem dann später zu den pädagogischen in Stuttgart. Etwa um 1908 herum nahm er meinen Bruder und mich mit zu dem nahegelegenen Leipzig; denn damals war es so üblich, daß die Eltern Rudolf Steiner ihre Kinder vorstellten. Wir waren darauf sehr gespannt; wir kannten Rudolf Steiner von einer Photographie her und wußten, daß er von unseren Eltern sehr verehrt wurde Mein Bruder (geb. 1901) und ich (geb. 1903) bekamen damals das schöne Kindergebet: "Vom Kopf bis zum Fuß bin ich Gottes Bild." Dabei nahm Rudolf Steiner mich auf seinen Schoß. - Meinem Vater gab er den Rat, uns erst zwei Jahre später als üblich zur Schule zu schicken. Weil dafür kein ärztliches Attest zu bekommen war, mußte mein Vater selbst (der als Kreisschulrat ja dafür zuständig war) zu einer Formulierung greifen, nach der wir geistig zurückgeblieben waren. Dazu gehörte wohl ein wenig Zivilcourage!
Gelegentlich von Stuttgart-Vorträgen um 1919/1920 herum rief Rudolf Steiner meinen Vater zu sich und erzählte ihm, daß ein Herr Ing. Hans Pohlmann dagewesen sei, der gern sähe, daß in Hamburg eine Waldorfschule entstünde. Er könne vorerst eine Villa dafür zur Verfügung stellen und wolle auch sonst finanziell helfen. Ob mein Vater nicht die pädagogische Seite übernehmen wolle. - Bei dieser Gelegenheit erkundigte sich Rudolf Steiner auch nach meinem Bruder und mir. Vater erzählte, daß mein Bruder Theologie studierte; dem stimmte Rudolf Steiner befriedigt zu. Mein Bruder Thomas Kändler gehörte dann später zum Urpriesterkreis und wurde der erste Pfarrer der Christengemeinschaft in Hamburg - mit 21 Jahren. Über meine Berufswünsche (ich wollte die Kunstgewerbeschule in München besuchen) war Rudolf Steiner nicht begeistert; er schlug meinem Vater auf dessen Frage hin vor, ich solle doch Eurythmie studieren; es begänne ja bald eine Ausbildung durch Frau Lory Maier-Smits, da könne ich dazu kommen!
Mit Bezug auf die Schulgründungsfrage erbat sich mein Vater eine Nacht Bedenkzeit. Er war immerhin schon 50 Jahre alt, liebte seine Arbeit und seine Lehrer in Greiz sehr und sah deutlich das finanzielle Risiko ohne eine "Beamten-Sicherheit". Aber er sagte am nächsten Morgen zu und besprach die nächsten Schritte mit Rudolf Steiner.
Wieder zuhause, unterbreitete er uns alle Pläne. Mein Bruder war begeistert, meine Mutter traurig und ich entsetzt, daß ich einen Beruf - die Eurythmie - erlernen sollte, von der ich keinerlei Ahnung hatte. Mit viel gutem Zureden - ich war erst 16 Jahre alt - brachte man mich dann dahin, es wenigstens für 4 Wochen mal zu versuchen. Lory Maier-Smits war ebenso entsetzt wie ich, da ich ja keinerlei Voraussetzungen mitbrachte. Mein Bruder half mir sehr, mich in alles hineinzufinden; von Anthroposophie hatte ich keine Ahnung. - Es dauerte nicht allzu lange, bis ich dann doch von der Eurythmie begeistert war. - Meinen Vater ließen die Kollegen und Behörden in Greiz nur ungern gehen, hatte er doch durch seine vielen Anregungen zum Aufblühen des Städtchens beigetragen. Man stellte ihm zum Schluß frei, jederzeit wieder nach Greiz zurückzukehren.
Wandsbek, wo die Villa von Herrn Hans Pohlmann stand, gehörte 1922 noch zu Preußen. Mein Vater mußte also in dem nun beginnenden Behördenkampf immer wieder nach Berlin reisen und verhandeln. Man war dort mißtrauisch und konnte nicht verstehen, daß ein Kreisschulrat seine gesicherte Beamtenlaufbahn aufgeben wolle, um mit ein paar Kindern etwas neues zu beginnen. Die Genehmigung wurde immer wieder hinausgezögert.
Ostern 1922 kam heran, wo der Unterricht beginnen sollte. Schließlich schickte mein Vater ein Telegramm nach Berlin: "Da ich keine gegenteilige Nachricht bekommen habe, nehme ich an, daß die Schule genehmigt ist, wir beginnen am 22. Mai 1922". Ein Risiko, aber die Genehmigung kam dann doch, nachdem wir mit dem Unterricht schon begonnen hatten!

Vater und ich waren schon vor Weihnachten nach Wandsbek gezogen und wohnten zuerst wochenlang in einem Hotel. Bevor wir in die Villa von Hans Pohlmann übersiedeln konnten, fuhren wir noch einmal nach Berlin - Ende 1921 -, um uns letzte Ratschläge vor Beginn der Schule zu holen. Dort bestimmte Rudolf Steiner, daß ich den Eurythmieunterricht erteilen sollte. Auf mein Erstaunen hin, daß ich mir das noch nicht zutraue (ich war eben 18 Jahre alt geworden), sondern lieber erst noch mal nach Dornach gehen und mich in der Eurythmie vervollkommen wolle, meinte er: Dazu haben wir jetzt keine Zeit! - Auch trug er mir den Handarbeitsunterricht auf. Auf meine Erwiderung, daß ich das doch nicht gelernt hätte, meinte er augenzwinkernd: Sie wollten doch so gerne auf die Kunstgewerbeschule gehen! Auch das Malen sollte ich übernehmen. (Ich hatte während der Eurythmie-Ausbildung das Malen geschwänzt, weil es mir zu schwer schien!) Auch könne ich ja noch den Englischunterricht übernehmen Rudolf Steiner merkte wohl, daß ich recht besorgt war ob all dieser Aufgaben, und meinte dann, für das Noch-nicht-Können müsse die Begeisterung stehen. Die hatten wir alle, die wir damals so verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen mußten. Mit guten Ratschlägen und Wünschen wurden wir Ende 1921 in Berlin entlassen.
Etwa März 1922 konnten wir in die Pohlmann-Villa übersiedeln mit je einem Bett und einem Stuhl für Vater, meinen Bruder, der gleichzeitig seine Arbeit in der Hamburger Christengemeinschaft begann, und mich. Wegen der Geld-Inflation konnten wir unsere Möbel aus Greiz nicht kommen lassen. Meiner Mutter hätten wir solche Provisorien nicht zumuten können, wir ließen sie erst noch in Thüringen bei Verwandten. In die Küche holten wir Gartenmöbel, begannen dann mit dem Einrichten der Schulräume, unterstützt von gewesenen Wandervögeln. Der halbe Garten wurde in einen Schulhof verwandelt.
Unser aller Verpflegung bestand aus dem Wenigen, was man damals noch für schnell auszugebendes Geld erwischte. Der Ofen wurde mit Sägespänen geheizt, die wir unter Anleitung von Herrn Pohlmann in breite Röhren stampften und durchglimmen ließen. Das gab täglich für ein paar Stunden Wärme. Aber gelegentlich froren die Wasserrohre ein, da fand man sich dann nachts bei Rohrbrüchen im Treppenhaus wieder zusammen. Unseren Humor verloren wir trotzdem nicht!
Die Kinder mußten wir vom S-Bahnhof abholen und wieder zurückbringen. Die Klassenräume putzte ich, und manches liebe Mal wurde auch eine Suppe für die hungrigen Kinder gekocht, denn sie mußten (und wollten) sehr oft noch länger bleiben. - Wir konnten zuerst nur mit 7 Kindern beginnen, weil der Hamburger Zweig uns keine Unterstützung gab, ja sogar den Eltern abriet, uns ihre Kinder zu schicken! So waren wir anfangs wie eine große Familie allein.
Rudolf Steiner hatte den Rat gegeben, etwa 4 Jahre lang jährlich nur eine Klasse neu zu eröffnen. Bei Begründung der zweiten Klasse schickte er uns Heinz Müller aus Thüringen (Jena). Heinz Müller und andere haben oft Einzelheiten berichtet. Weil (infolge der Haltung der Anthroposophischen Gesellschaft in Hamburg) für die 2. Klasse nur wenig Anmeldungen kamen, faßten Heinz Müller und ich den Plan, vor dem Zweighaus Prospekte zu verteilen. Da wir für die vielen Kilometer Fahrt dorthin kein Straßenbahngeld hatten, mußten wir zu Fuß gehen. Wenn die Kinder Schulgeld brachten, sausten Heinz Müller oder ich los, um es am gleichen Tag noch in Lebensmittel (hauptsächlich Suppenwürfel) umzusetzen. Das Geld entwertete sich schon bis zum nächsten Tag.
In der Villa entstand bald ein reges Leben, da mein Bruder auch die Weihehandlung und Vorträge dort hielt. Stühle wurden geliehen und die Schulbänke im Garten gestapelt. Mitglieder brachten oft eigene Stühle mit. 1924 kam dann als nächster Lehrer - von Rudolf Steiner empfohlen - Otto Altemüller zu uns. Herr Pohlmann erstand bald ein zweites Haus in der Bleicherstraße, wo später das neue Schulgebäude entstand; hier steht jetzt die nach 1945 wieder aufgebaute Schule. Viele treue Helfer schufen damals in selbstloser Hilfsbereitschaft die erste Inneneinrichtung.
Unsere Begeisterung mußte auch alle unsere Fehler ausgleichen, die wir natürlich machten. Wir mußten uns ja sehr vieles selbst erarbeiten; denn auch von der Stuttgarter Waldorfschule bekamen wir anfangs nur wenig Hilfe, bis Rudolf Steiner nachdrücklich dafür sorgte, daß auch uns alle seine pädagogischen Angaben und Kurse zur Verfügung gestellt wurden, damit er nicht alles zweimal geben mußte. Die Schule wuchs nun zusehends, im Gegensatz zu unserem Gehalt. Wir verteilten einfach das, was hereinkam, und das war nicht viel. Klassenteilungen in Sprachen, Eurythmie usw. konnten wir uns nicht leisten. Aber wir hielten durch und hatten 1939 bei der Schließung der Schule durch den Nationalsozialismus ein schönes, großes Schulhaus mit Aula, Turnhalle und mehreren Nebengebäuden.
Bei der Namengebung der Schule wollte mein Vater sie gerne Rudolf Steiner-Schule nennen, aber Rudolf Steiner meinte: "Warum wollen Sie sich denn mit meinem Namen Steine in den Weg legen? Tun Sie das lieber nicht!" - Darauf fragte mein Vater, ob man sie denn Goethe-Schule nennen solle. Davon war Rudolf Steiner begeistert. Zum Schluß möchte ich noch den Spruch bringen, den mein Vater von Rudolf Steiner für die Goethe-Schule bekam:

Aus dem Ernst der Zeiten
muß geboren werden
der Mut zur Tat.
Gebt dem Unterricht,
was der Geist euch gibt,
und ihr befreit die Menschheit
von dem Alpdruck,
der auf ihr lastet durch
den Materialismus.

Bericht von Heinz Müller
zu 1922 - 1933
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