Auszüge aus: LASSE WENNERSCHOU:"VOM WERDEN DER HEIL-EURYTHMIE"
Aus den Lebensläufen von Ilse Rolofs und Trude Thetter

Ilse Rolofs
17. Oktober 1903 - 29. Dezember 1981


IlseRolofs und TrudeThetter
Ilse Kändler Rolofs und TrudeThetter

Mond und Venus stiegen fast gleichzeitig im Osten auf, als Ilse Kändler am 17. Oktober 1903, eine Stunde vor Sonnenaufgang, in Eibenstock im Erzgebirge geboren wurde. Ihr Bruder Tom war zwei Jahre älter. Mit etwa 3 Jahren erlitt sie, wie sie im Alter erzählte, einen Kälteschock. Sie war draußen im Schnee" vergessen" worden, die Wiedererwärmung geschah zu rasch. So verbrachte sie fast zwei Jahre ihrer Kindheit in einer gewissen Apathie. Sie konnte wahrnehmen, was um sie geschah, aber selbst nur wenig darauf reagieren oder teilnehmen. Der Vater, Dr. Max Kändler, wirkte in Eibenstock als Lehrer und wurde später Kreisschulrat in Greiz im Vogtland. Er war mit der Theosophie verbunden, und durch Michael Bauer hatte er Rudolf Steiner kennen gelernt.
Etwa 1908, als Rudolf Steiner in Leipzig war, hat er ihm seine beiden Kinder Tom und Ilse vorgestellt. Von dieser ersten Begegnung mit Rudolf Steiner hat Ilse Rolofs oft erzählt. Es war eine lebensentscheidende Begegnung. Sie hat unmittelbares Vertrauen zu Rudolf Steiner gefasst, ihn umarmt und sich auf seinen Schoß gesetzt. Er hat eine besondere Fingerübung mit ihr gemacht (die sie uns noch im Alter gern gezeigt hat), um ihr zu helfen, ihren Leib zu ergreifen. Dann hat Rudolf Steiner mit den beiden Kindern gebetet. Das jetzt so bekannte Kindergebet wurde damals - wahrscheinlich zum ersten Mal - gesprochen:

Vom Kopf bis zum Fuß
in allen lieben Menschen,
vom Herzen bis in die Hände
fühl ich Gottes Hauch.
Sprech ich mit dem Mund
folg ich Gottes Willen.
Wenn ich Gott erblick
überall, in Mutter, Vater,
bin ich Gottes Bild,
in Tier und Blume,
in Baum und Stein,
gibt Furcht mir nichts,
nur Liebe zu allem
was um mich ist.
Rudolf Steiner

Rudolf Steiner hat eine Zeile vorgesprochen, die beiden Kinder sprachen es nach. Dem Vater hat er auferlegt, Ilse und Tom die ersten beiden Schuljahre zu Hause zu unterrichten und erst ab der dritten Klasse einzuschulen.
1919 ist Max Kändler in Stuttgart und hört pädagogische Vorträge von Rudolf Steiner. In einem persönlichen Gespräch erkundigt sich Rudolf Steiner nach den Kindern. Als er erfährt, dass Ilse bei der Kunstgewerbeschule in München angemeldet ist, reagiert er ablehnend und sagt, sie solle Eurythmie lernen.
Im Herbst würde in Stuttgart ein Ausbildungskurs unter der Leitung von Lori Maier-Smits beginnen. Ilse war 15 Jahre alt. Als der Vater nach Hause kommt und ihr vom Gespräch mit Rudolf Steiner berichtet, weint sie. Hatte sie doch niemals Eurythmie gesehen und wohl kaum etwas darüber gehört. Und sie hatte doch einen Berufswunsch! Die Liebe zum Lehrer aber und der Beschluss ihres Bruders, sein Theologiestudium ebenfalls in Stuttgart anzufangen, hat ihre Entscheidung für die Eurythmie erleichtert. Aber die allererste Begegnung war nicht leicht für die junge Ilse. Sie war sechs Jahre jünger als die zweitjüngste, und ihre kleine Gestalt wurde ihr im Kreise der "schönen, großen Eurythmistinnen", wie sie sagte, schmerzlich bewusst. Aber, so schreibt sie selbst, "um es kurz zu sagen, nach vier Wochen hatte mich die Eurythmie bereits begeistert, und so ist es lebenslang geblieben".
Nach zwei Jahren, im Herbst 1921, ist die Ausbildung beendet. Ilse ist knapp 18 Jahre alt. Im November hat sie ein Gespräch mit Rudolf Steiner, in dem er sie auffordert, in der neu gegründeten Goethe-Schule in Hamburg-Wandsbek neben dem Eurythmie-Unterricht noch Handarbeit, Malen und Englisch zu geben. Ihr Vater hatte, nach einer Nacht Bedenkzeit, der Anfrage von Rudolf Steiner, in Wandsbek eine "Waldorfschule" zu begründen, zugestimmt. Am 5. November 1922 vollzieht ihr Bruder Tom die erste "öffentliche" Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft in Hamburg in einem Schulraum der Goethe-Schule. Es hat sich gefügt, dass die Familie Kändler von Eibenstock über Greiz und Stuttgart nach Hamburg geleitet wurde. Im Mai 1922 beginnt Ilse Kändler ihre Tätigkeit als Eurythmie-Lehrerin. Etwa ein halbes Jahr später ist es wiederum der Vater, der ihr eine neue Aufgabe übermittelt. Auch diesmal von Stuttgart kommend sagt er: "Rudolf Steiner bittet Dich, sofort nach Stuttgart zu kommen, um dort bei Elisabeth Maier (Schwägerin von Lori Maier-Smits) in der Klinik von Dr. Palmer Heil-Eurythmie zu lernen". Es war ihr nicht leicht, kaum mit der neuen Aufgabe vertraut, wieder etwas Neues zu lernen. Sie aber hat den Ruf des Lehrers vernommen und ist ihm gefolgt. In der Palmer-Klinik erfuhr sie, dass Elisabeth Maier dort Patientin sei und auf Anraten von Rudolf Steiner das Bett nicht verlassen sollte. In Wahrheit: eine besondere Ausbildungssituation. Die Lehrerin, selbst erst 24 Jahre jung, krank, bettlägerig. Sie hatte im April 1921 am Heil-Eurythmie Kurs von Rudolf Steiner teilgenommen. Die Schülerin, Ilse Rolofs, war noch keine 20 Jahre! Rudolf Steiner hat die beiden für diesen Lehrgang zusammengeführt.
Vom Bett aus instruiert Elisabeth Maier ihre Schülerin, die so lange die Übungen wiederholen muss, bis sie "sitzen". Dankbar hat Ilse Rolofs auf diese besondere Ausbildung zurückgeschaut. Ohne Vorbild hat sie die Bewegungen gelernt, dabei wurden ihre eigenen Empfindungen an den Übungen selbst geweckt. Im März 1923 stirbt Elisabeth Maier. Ilse Rolofs erlebte ihre Begleitung durch ihr Leben hindurch.
Lassen wir diese Fragen in uns reifen, und verfolgen wir den weiteren, noch jungen Lebensweg von Ilse Kändler.
Die einzigartigen Ausbildungswochen sind zu Ende, und zusätzlich zu den Aufgaben, die sie schon in der Wandsbeker Schule hat, fängt jetzt ihr Leben mit der Heil-Eurythmie an. Ihr Helfer-Sinn kann sich entfalten.
Noch zweimal wird ihr Weg nach Dornach führen, um die eigene eurythmische Schulung zu vervollständigen. 1924, im Sommer, kann sie teilnehmen an dem Laut-Eurythmiekurs von Rudolf Steiner, und noch im Alter berichtet sie mit Begeisterung von diesen Vorträgen und der gelösten, heiteren Stimmung bei den vielen Teilnehmern. "Das Ganze trug den Charakter der unmittelbaren frischen Improvisation; Zeichnungen wurden auf die Tafel schnell hingeworfen, Übungen zur Exemplifizierung von jungen Damen ausgeführt; es stand alles im Zeichen des Gesprächs und des Zusammenarbeitens, nicht des Dozierens. So war ja oft der Unterricht, den Rudolf Steiner seinen Schülern angedeihen ließ, aber niemals in so hohem Maße wie bei diesem Kursus über Eurythmie" - so beschreibt Marie Steiner 1927, im Vorwort bei der ersten Herausgabe des Kurses, die Stimmung, die um diese Vorträge waltete.
Die Ton-Eurythmie war 1919, als Ilse ihre Ausbildung in Stuttgart hatte, noch kaum entwickelt. So besucht sie, zehn Jahre später, einen Ausbildungskurs in Ton-Eurythmie bei Elena Zuccoli. Letztendlich hat sie zu Ostern 1931 ihr Eurythmie-Diplom erhalten, ausgestellt von Marie Steiner und Isabella de Jaager. Da hatte sie zehn Jahre in der Schule unterrichtet. Etwas überspitzt können wir sagen: sie hat eine zehnjährige praxisnahe Ausbildung gehabt. Zuerst eine kurze, auf das Wesentliche konzentrierte Aneignung der Laut-Eurythmie. Anschließend Unterrichtstätigkeit. Es folgt die wiederum auf das Wesentliche konzentrierte Ausbildung in der Heil-Eurythmie. Dann der Laut-Eurythmie Kurs, und schließlich die wiederum auf das Wesentliche konzentrierte Arbeit mit Elena Zuccoli, um das musikalische Element der Eurythmie zu lernen.
Einen Vertrauensgrund für die ersten zwölf Jahre ihrer Unterrichtstätigkeit gab ihr die Ehe mit Heider Priess.
Als er 1937 nach langer Krankheit stirbt, wirft der Nationalsozialismus seine Schatten auch auf die Waldorfschule. Es folgen zunehmend schwerere Jahre, bis die Schule verboten wird. Nach dem Krieg ist sie im Landschulheim in Benefeld, gibt Eurythmieunterricht und Heil-Eurythmie, sie ist verheiratet und Mutter geworden. 1957 kommt die Familie nach Hamburg, sie kann wieder an "ihrer" Schule arbeiten und sich ganz der Heil-Eurythmie widmen. Es beginnt die Zusammenarbeit mit Dr. Joachim Rasch, aus der sie später viel berichten wird. Fünfzig Jahre hat sie mit der Eurythmie gelebt, als sie 1968 pensioniert wird. "Vollendet ist das Werk" dürfte sie mit Recht jetzt gesagt haben, aber noch ist ihr Leben nicht erfüllt.
Ein Jahr nach Begründung der neuen Ausbildung am Goetheanum beendet Ilse Rolofs ihre Tätigkeit an der Wandsbeker Schule. Seit ihrem 19. Lebensjahr hat sie ihre Aufgabe in der Schule erfüllt, hat vor allem Schulkindern mit der Heil-Eurythmie geholfen. Ihren Wunsch, nach der Pensionierung näher am Goetheanum zu wohnen, kann sie sich erfüllen. Mit ihrem Mann zieht sie nach Sölden bei Freiburg. Ein weiterer lang gehegter Wunsch war, in einer Klinik mit der Heil-Eurythmie tätig zu sein. Auch dieser Wunsch erfüllt sich. Drei Jahre, während der Sommermonate, kann sie in der Ita-Wegman-Klinik in Arlesheim Ferienvertretungen machen. Sie nimmt nicht nur teil am Schicksal der Menschen, die sie heileurythmisch betreut, sie lernt auch Schwestern, Therapeuten und Ärzte kennen, die mit Ita Wegman gearbeitet haben. Mit der heilkräftigen Atmosphäre in der Klinik empfindet sie sich verwandt. Dr. Sabine Sattler, die Ärztin, die mit Trude Thetter die Ausbildungskurse leitet, "entdeckt" Ilse Rolofs. Unmittelbar erlebt sie die Quelle, aus der die Heil-Eurythmie bei ihr strömt und sie bittet Ilse Rolofs, in den Ausbildungskursen von Trude Thetter mitzuarbeiten. Sie werden zusammengeführt, Ilse Rolofs und Trude Thetter. Bei dem Kurs im Februar-März 1970 begegnen sie sich zum ersten Mal persönlich. Trude Thetter, etwas zurückhaltend: wer soll jetzt mit den Studenten üben? - Ilse Rolofs, scheu und ein wenig unsicher neben der so "bekannten" Trude Thetter.
Wir, die damals als Studenten an diesem Kurs teilnahmen, haben die Begegnung dieser beiden Menschen miterleben dürfen. In der ersten Übstunde hat Ilse Rolofs die Herzen der Studenten angesprochen und das Herz von Trude Thetter erreicht. Was ich in den folgenden vier Wochen erlebte ist Grundlage geworden für meine heileurythmische Tätigkeit. Als Student an der Eurythmieschule in Wien kannte ich Trude Thetter, ich verehrte sie. Wahrgenommen hatte ich auch, wie es unterschiedliche Auffassungen gab bezüglich der Heil-Eurythmie-Übungen. Nun war ich, und mit mir die anderen Studenten gespannt: wie wird Ilse Rolofs die Übungen machen? Was dann folgte, kann ich nur in den Worten zusammenfassen: Ich durfte vier Wochen lang aus der Quelle der Heil-Eurythmie schöpfen. Ilse Rolofs vermittelte uns, wie sie von Elisabeth Maier die Übungen gelernt hatte. Trude Thetter gab uns die Übungen, wie sie sie, 12 Jahre später, bei Elisabeth Baumann bekommen hatte. Es waren dieselben Übungen.
Äußerlich nicht, waren doch Ilse und Trude so ganz verschiedene Menschen, es war das "innere Wie", das bei beiden übereinstimmte.
Es miterlebt zu haben, wie die zwei Menschen im Laufe der vier Wochen immer vertrauter wurden, ist ein Lebensgeschenk. Für die folgenden Kurse hatte Trude Thetter Ilse Rolofs an ihrer Seite. Zusammen haben sie die letzten acht Kurse geleitet. In jedem Kurs zwischen 50 und 80 Teilnehmern. Aus der ganzen Welt kamen Menschen, um an dieser Arbeit teilzunehmen, um ausgebildet zu werden. - Weitere Heil-Eurythmie-Ausbildungen wurden begründet. 1974 in Stuttgart, 1977 in England, 1982 in Holland.
Als älteste von beiden, war es Ilse Rolofs, die erkannte, dass die eigenen Kräfte erschöpft waren, dass sie nach dem Kurs 1977 ihre Mitarbeit beenden musste. Trude Thetter hat die Schicksalssprache vernommen, sie wusste: die Ausbildung wird jetzt beendet. Nachfolger haben sie, dieser Ausbildung entsprechend, keine gesucht. Sie wussten: "Auch das Schöne muss sterben". Sie haben beide im Sinne der Lebenskräfte gewirkt, vertrauend darauf, dass Geburt und Tod nicht Anfang und Ende des Lebens sind.
Wie war es möglich, Ausbildungskurse mit mehr als sechzig Teilnehmern durchzuführen? Konnte jeder korrigiert werden, auf seinem eigenen Weg gefördert werden? Diese und ähnliche Fragen tauchen auf, sie können in der Seele verharren, Zweifel verbreiten.
Drei dieser Kurse habe ich miterlebt, die weiteren konnte ich aus der Nähe mit verfolgen. Rückblickend will ich versuchen, das selbst Erlebte Dir zu beschreiben, mit dem Blick gerichtet auf Trude Thetter und Ilse Rolofs.
Von Trude Thetters Art, die Eurythmie zu vermitteln, habe ich Dir bereits viel berichtet. Hier, in der großen Gemeinschaft, hat sie vor allem ordnend gewirkt. Selten hat sie etwas vorgemacht, selten auch direkt korrigiert. Lange, oft sehr lange, wurde jede Lautbewegung, jede Übung wiederholt. Im Tun ordnete sich die Gemeinschaft der Übenden, der Laut wurde erlebt. Das Erlebnis war konkret, jeder wurde - zu seiner Zeit - vom Laut berührt und korrigiert. An den anderen haben wir alle auch uns selbst gesehen, die Unzulänglichkeiten des anderen empfand ich zugleich bei mir, und das Gute, das Wahre beim anderen hat mich angespornt im eigenen Üben. Damit diese Lernatmosphäre entstehen konnte, bedurfte es Ordnung, dafür hat Trude Thetter gesorgt. Sie hat es verstanden, diese Ordnung nicht zu stören durch "kluge Bemerkungen" oder "interessante Ausführungen" zu den Übungen. Im Tun wurde unser Bewusstsein auf das Tun selber gerichtet. Sie hat nie eine noch nicht gute Bewegung nachgemacht und dadurch jemanden bloßgestellt, sie hat immer auf das Gute, das Wahre hingewiesen. Ihre Bewegungen waren immer schön. Ja, die konsonantische Heil-Eurythmie mit den ungewöhnlichen Sprüngen wurde schön durch ihre ordnende Führung. Wir lernten: die Weisheit kann dem Willen dienen.


Ilse Kändler Rolofs 70er Jahre in Dornach
Ilse Kändler Rolofs 70er Jahre in Dornach

Mit Ilse Rolofs kam ein neues Element in die Ausbildungskurse, mit ihr wurden die Kinder anwesend. In der Art, wie sie mit uns übte, wurden wir zu den Kindern hingeführt. Mit jeder Übung konnte sie anknüpfen an Erfahrungen, die sie in ihrer Arbeit in der Schule gemacht hatte. Mit uns im Kreis stand ein Mensch, der uns helfen wollte, der niemals kindlich wurde beim Berichten von den Kindern. Auch für sie war es ein Grundsatz, dass wir von den eigenen Bewegungs-Erfahrungen lernen mussten. Sie hat oft selbst mitgeübt, nicht von außen korrigiert. Im Tun hat sie uns begleitet und geholfen, immer heiter. Gegen Ende der Stunde wurde zurückgeblickt auf das Geübte, Üb-Erfahrungen wurden ausgetauscht.
Wir staunten über die Fülle der Erfahrungen, aus der sie schöpfen konnte, aber nicht nur die Fülle war es. Es war vorbildlich, wie diese Erfahrungen geordnet waren. Auf Konstitutions-Einseitigkeiten hat sie uns aufmerksam gemacht, und wie wir sie durch Heil-Eurythmie mildern könnten, wenn sie zu stark würden. In ihrer Arbeit in der Schule hatte sie nicht nur mit einzelnen Kindern geübt, sie fasste Gruppen von Kindern zusammen, die in ihrer Einseitigkeit Gemeinsames hatten. In dieser Gruppenarbeit hat sich ihre besondere Begabung für Raum-Formen entfaltet, sinnvolle Formen entstanden, immer aus dem Bemühen heraus, den Kindern zu helfen. Sie war ein phantasiebegabter Mensch, sie besaß die Gabe, mit den Übungen sinnvoll zu "spielen". Erstaunlich für uns Studenten war auch ihr Angebot an die Kinder, vor Schulbeginn ihre Heil-Eurythmie-Übungen zu üben. In der Turnhalle war Ilse Rolofs anwesend, die Kinder kamen, fanden einen Platz zum Üben. Es war ein stilles Kommen und Gehen, begleitet von einem Händedruck, einem Blick in die Augen. Sie haben sich wahrgenommen, das Kind und die Heil-Eurythmistin. Ilse Rolofs konnte diese besondere Übstunde durchführen, weil sie den Raum erfassen konnte und mit jedem Kind verbunden war. Sie wollte dem Kind helfen und der Schule. Es war ihr wichtig, uns zu vermitteln, dass wir als Heil-Eurythmisten in der Schule auch für die Schule da sein müssten. "Der Einzelne und das All" - dieses war ein Grundthema ihres Lebens.
Durch die Ordnung, die sie sich in ihrer Arbeit auferlegt hatte, konnte sie in den großen Ausbildungskursen die Teilnehmer erreichen. Klar aufgebaut waren ihre Stunden, mit Humor gewürzt und mit nie versiegendem Helferwillen erfüllt. In ihren vielen Arbeitsnotizen wird es ersichtlich, wie sie jede Stunde in den Ausbildungskursen sorgfältig vorbereitete. "Die Schüler sollten spüren, dass der Heil-Eurythmie-Raum eine Art Oase ist, wo man mit vielem hinkommen kann, wo man auf Interesse stößt. - Für alles Interesse zeigen, für ihre Arbeiten in Handarbeit, Werkarbeit, Epochenheft, Monatsfeier. Bei den Größeren auf Zeiterscheinungen eingehen."
"Jede Bewegung, die der Mensch macht, ist eine Bewegung aus seinem Schicksalsfeld. Da muss man behutsam vorgehen, langsam umwandeln, Hindernisse wegräumen, zum Urbild führen."
"Man muss versuchen, den Patienten zu erklären, dass das Ich bis in die Gliedmaßen und in das Stoffwechselsystem scheinen muss, auch bis ins Rhythmische. Sonst Ich-loses Chaos."
"Man muss das Kind nicht an das Können, sondern an das Schaffen heranführen" - Rudolf Steiner
Drei Grundforderungen Rudolf Steiners' an den Erzieher:
"Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit, habe den Mut zur Wahrheit, schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit."
"Was erwartet wird, ist nicht immer das Richtige"
"Ich gebe nicht Rezepte, es sind Beispiele, wie man bei einem Patienten die Sache angehen kann. Man kann sie vervielfältigen - die Beispiele - und vor allem variieren, und immer versuchen, die Ursache zu finden. Die Lautfolgen nicht zu sehr festlegen, das Verhältnis der Laute untereinander studieren, dabei Begeisterung haben."
"Wenn man Forderungen aufstellt, wie ein Kind sein soll, kann man das leicht definieren. Wie die Kinder wirklich sind, das psychologisch zu erkennen, muss man sich mit schwerem Studium erringen. Dies ist eines, wovon in meine, dass wir es als eine Hauptsache betrachten: Verstehen lernen der Kinder. Sich gar nicht vornehmen, sie müssen so oder so sein." - Rudolf Steiner G.A. 300/1 S.156
"Zusammenarbeiten heißt doch, dass man sich gegenseitig das gibt, in dem man tüchtig ist, nicht, dass der eine in die Sphäre des anderen eingreift." - Rudolf Steiner G.A. 318 S.19
"Lass in der Heil-Eurythmie-Stunde nüchterne Frömmigkeit walten." Wenn Ilse Rolofs von ihrer Kindheit und Jugend erzählte, wie Rudolf Steiner sie "auf den Weg gebracht hatte", dann konnten wir erleben, wie die Begegnung mit ihm weiter in ihr lebte. An dem Licht, was durch diese Begegnung gezündet wurde, durften wir, ihre Schüler, Patienten und Freunde teilhaben. Und durch dieses Licht wurde deutlicher vernehmbar, was durch das Schweigen von Trude Thetter sprach. Als die Ausbildungskurse im März 1977 beendet wurden, war eine Epoche, eine besondere Art der Heil-Eurythmie-Ausbildung zu Ende. Später erzählte Ilse Rolofs von einer kleinen Begebenheit beim Abschlussgespräch mit Trude Thetter. Es war Frühlingswetter in Dornach, der Nachmittag warm. Durch das offene Fenster, im Sonnenlicht, flog ein Rotkehlchen in das Zimmer von Ilse Rolofs, umkreiste heiter die beiden Frauen und flog singend davon.
Trude Thetter blieb weiterhin in der Wiener Eurythmie-Schule tätig; einige Fortbildungskurse für Heil-Eurythmisten gab sie in den folgenden Jahren.


Ilse Kändler Rolofs 1978 in ihrer Wohnung im Tobiashaus
Ilse Kändler Rolofs 1978 in ihrer Wohnung im Tobiashaus

Ilse Rolofs war verwitwet, ihr Weg führte zurück nach Hamburg in das Tobias Haus, einem Altersheim der Christengemeinschaft. Dort ergriff sie eine neue Aufgabe: die Eurythmie mit alten Menschen. Wenn der Leib in seiner Bewegungsfähigkeit nach und nach eingeschränkt wird, darf die Seele diesem Eingeschränktsein nicht folgen. Die Eurythmie bekommt für den alten Menschen eine andere Aufgabe als beim Kind. Mit innerer Ruhe und liebevollem Verständnis hat Ilse Rolofs im Tobias Haus Eurythmiestunden gegeben. Nach einer der ersten Stunden kam ein Altersgenosse auf sie zu und sagte: "Aus dir kann noch was werden!"
Im September 1981 ist Ilse Rolofs in Überlingen und macht Ferien am Bodensee. An viele Freunde schreibt sie Briefe, berichtet vom Leben im Tobias Haus, von Reisen und Menschenbegegnungen. Kurz vor Michaeli wird sie beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst. Zwei Monate verbringt sie im dortigen Krankenhaus, nur allmählich kann sie ihre Umwelt wahrnehmen. Dann die Überführung nach Hamburg, wo sie auf der Pflegestation im Tobias Haus aufgenommen wird. Am 29. Dezember löst sie sich von ihrem Leib.

zu 1922 - 1933
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