Erinnerungen an Inge Schröder
27.10.1924 - 14.11.2004

Fräulein Martha Somann hatte mit ihrer vierten Klasse bei der Wiedereröffnung der Schule 1946 begonnen. Zur Ergänzung ihrer Klasse hatte sie 1947 bei den Anmeldungen zum fünften Schuljahr die erste Wahl vor Herrn Werner Lamp. Für dessen Klasse kamen über sechzig Kinder zusammen. Vier Jahre lang führte er uns freundlich, entschieden, gerecht, aufmerksam. Dazu an anderer Stelle mehr.
Zum neunten Schuljahr übernahm Fräulein Janssen die Leitung der Klasse. Sie unterrichtete die Fächer Deutsch und Geschichte. Und ganz besonders förderte sie, was an Musik in der Klasse vorhanden war. So begann sie mit uns Neuntklässlern Sätze aus dem Septett von Ludwig von Beethoven zu erarbeiten. Am Ende des zehnten Schuljahres konnten 1953 knapp zwanzig von uns die Schule weiterbesuchen. Die anderen hatten Berufsausbildungen zu beginnen.
Gegen Ende der Sommerferien erreichte uns die Nachricht, Fräulein Janssen sei in Österreich tödlich verunglückt. Auch zu Fräulein Janssen an anderer Stelle ausführlicher.
Herr Dähnhardt übernahm zunächst unsere Betreuung und unterrichtete die Fächer Mathematik, Physik und Chemie. Wenige Wochen danach berichtete er uns, eine junge Lehrerin habe während einer Lehrertagung in Stuttgard vom Unfall Fräulein Janssens erfahren. Und nun habe sie an unserer Schule in Deutsch und Geschichte zu unterrichten begonnen.
Ein paar Tage später brachte mich Klassenkamerad Jürgen mit seiner DKW-Maschine zum bewachten Fahrradstand hinter der Kreuzkirche. Dabei fuhren wir am Markt an Fräulein Sewering vorbei. Seit kurzem unterrichtete sie in der Oberstufe unserer Schule. Sie nickte uns vergnügt zu, als sie ein junges Mädchen neben ihr auf uns aufmerksam machte.
"Am Mittwoch möchte Fräulein Schröder die 11b in der Klassenlehrerstunde vor Beginn der Geschichtsepoche gerne kennen lernen. Benehmen Sie sich bitte gesittet, damit die junge Lehrerin nicht gleich vor Schreck wieder das Weite sucht!", so Herr Dähnhardt schmunzelnd. An der Tür Geräusch von tastender Hand. Etwas zaghaft wurde die Tür geöffnet. Und aus tiefer Dunkelheit trat die jugendliche Begleiterin von Fräulein Sewering, an der Jürgen und ich vorbeigefahren waren, in die Klasse (War das wiedermal der Glühbirnen-Scherz von Charly und Jürgen?).
Fräulein Schröder trat mitten vor die drei Reihen Schultische. Wir wurden als "Klasse 11b" begrüßt. Und Fräulein Schröder schilderte, welche Inhalte uns im elften Schuljahr in den Fächern Deutsch und Geschichte erwarteten. Sie habe davon gehört, wir seien eine musikalische Klasse. Da habe sie etwas mitgebracht. Und verteilte Noten zu einem schlichten vierstimmigen Renaissance Madrigal, welches sie recht geschickt mit uns erarbeitete, so dass wir es bis zum Ende der Stunde einigermaßen singen konnten.
Viele Jahre danach erzählte Inge Schröder, angefangen habe sie damals mit der 10ten, der Rödel-Klasse. Und in den vier Wochen hätte sie sozusagen keinen Fuß an Deck bekommen, soll heißen, sie habe diese Klasse im Unterricht trotz aller Mühe nicht erreichen können. Im Praktikum in einem Landschulheim dagegen hatte sie zuvor recht bestätigende Erfahrungen gemacht. Und zweifelte nun daran, ob sie überhaupt zum Lehrer geeignet sei. Mit uns würde sie noch einen Versuch wagen. Wenn der auch schief gehe, dann wollte sie das Studium bis zur Dissertation fortführen, das Thema war bereits bei Professor Beutler in Frankfurt eingereicht worden, "Die Bedeutung des Wortes -heiter- im Werke Goethes".
Sie fragte nun Herrn Curdt Dauskardt, den Hausmeister, der in dem kleinen Putzraum am Flurende an der Klingel stand, nach dem Klassenraum. Hier hatte er für jeden Stunden- und Pausen-Beginn den Schalter solange zu drücken, wie es läuten sollte.
Er schilderte den Weg mit einer freundlichen Aufmunterung. Deren Wirkung schnell wieder verflog. Denn hinter der Tür war es stockfinster und das Licht ließ sich nicht einschalten. Sie tastete sich vorsichtig einige Stufen abwärts auf ein Podest, dann scharf rechts herum weitere Stufen hinab und wieder scharf rechts in einen Gang, dann nach links und etwa 20 Schritte weiter erreichte sie schließlich die Klassenraumtür.
Als dann zwei Wochen danach ihre erste Epoche bei uns begann, habe sie schon während der ersten Zeilen des Morgenspruches, "Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet . . . " gespürt: Es geht ja doch! Das habe sie darin bestärkt, nicht aufzugeben und doch Lehrer zu bleiben.
Viel, viel später erzählte Inge Schröder, es sei in der Klasse wesentlich leichter zu unterrichten gewesen, wenn ich gefehlt hätte. Zu häufig hätten meine kritischen Anmerkungen den Unterrichtsverlauf behindert, gar unterbrochen!
Aus damaligen Neuerscheinungen las Fräulein Schröder so geschickt gewählte Passagen, dass lebhaftes Interesse geweckt wurde, weiter zu lesen: Hermann Hesse: Glasperlenspiel, Steppenwolf, Morgenlandfahrt; Thomas Mann: Doktor Faustus, Zauberberg, Lotte in Weimar; Remarque: Im Westen nichts Neues! Dramen Goethes, Schillers, Kleists wurden mit verteilten Rollen gelesen.
Wenige Tage nach Beginn der ersten Epoche lud Fräulein Schröder uns in ihr Zimmer in Wellingsbüttel ein. Ich war mit dem Rad fast eine Stunde zu früh da. Dass das stören könnte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn! Die Einrichtung war recht ungewöhnlich. Viele Bücher in Regalen aus Brettern und Ziegeln. Sehr besondere, "abstrakte" (wie es damals hieß) Bilder an der Wand. Da hing auch ein merkwürdiges kleines eckiges Streichinstrument. Eine Fidel, wie wir dann erfuhren. Die hatte ihr Bruder gebaut, der in Mittenwald Geigenbau lernte.
Nur an wenige Unterrichtsinhalte habe ich eine deutliche Erinnerung. In 14 Tagen (24 Hauptunterrichtstunden) durch die Literaturgeschichte - oder - "Vom Wessobrunner Gebet bis zu Carossa, Hesse, Thomas Mann, Bert Brecht!" Das sei ihr in so knapper Zeit nie wieder geglückt, sagte sie später dazu. Eine damalige Mitschülerin berichtete, sie habe die Reifeprüfung extern ablegen müssen und mit den Kenntnissen in Literaturgeschichte eine '1 plus' bekommen.
Nach Ende der Schulzeit gab es ab 1956 abendliche Treffen in vierzehntägigem Abstand bei Inge Schröder, mal im Lehrerzimmer der Schule, mal bei ihr zu Hause. Denn wir waren irgendwie "ihre Klasse" geworden. Wir verabredeten, uns literarische Entdeckungen während der zwischen den Treffen liegenden Zeit mitzuteilen. Ab und an schummelte ich eigene "Machwerke" unter, die manchmal Interesse hervorriefen. Zwei Zeilen weiß ich noch von einem längeren Gedicht: Tugend, du bist wie der Pfad, der des Wanderers Schritte ermüdet. / Immer nur führst du hinan, ihm nie der Ruhe gewährend.
Schließlich ging es an Proben zu Shakespeare: "A Midsummer Nights Dream" auf der Bühne im neuen Saal der von Grund an wieder aufgebauten Schule. Das hatte Herr Dauskardt uns ermöglicht. Er mochte unsere Klasse irgendwie ganz besonders. Denn als zwölfte hatten wir noch manchmal auf dem Schulhof aus Jux und Dollerei "Kriegen" gespielt. Vielleicht auch, weil er nicht vergessen hatte, dass wir unsere Klassenlehrerin Gisela Janssen 1953 auf so tragische Weise verloren hatten. Herr van Grootheest hatte es in Englisch mit uns im elften Schuljahr aufgeführt, mit Unterstützung von Wolfgang Schlüns und Wolf Körner aus der Parallelklasse und Orchestermusik von Herrn Steglich. Es blieb aber dann nur bei ersten Proben. Vor Pfingsten 1955 fuhren die 12ten Klassen mit Fräulein Schröder, Herrn Becker-Carus, Herrn van Grootheest, Herrn Dr. Brosch nach Paris. Unterkunft hatten wir in einer Art Jugendherberge 20 Minuten Weg von der Metro-Station Porte d'Auteul. Zum Frühstück gab es wunderbar aromatisches Baguette mit beliebig viel süßen Kakaos. Wir hatten mehrmals Gelegenheit den Louvre zu besuchen. In der frommen Stille der farbigen Glasfenster in der Sainte Chapelle hörte ich ein zierliches, kleines, blondes Mädchen wiederholt vernehmlich seine Eltern fragen: "Where is Saint John beheaded?" Besonders faszinierte manchen von uns der Besuch des Musee des Arts Modernes. Zum Abendessen ging es in eine Mensa in der Nähe des Invaliden-Domes mit gelegentlich abenteuerlich unbekannten Gerichten.
Als ich die Lehre begonnen hatte, fragte Fräulein Schröder nach einem kleinen Regal für ihre Küchenecke. Sie gab mir die Breite und Höhe an, die dort zur Verfügung waren. Die Formgebung fiel mir recht schwer, bis ich Schulkamerad Uwe Hansen an einem Sonntagnachmittag mit dem Rad zu seinem Klarinettenlehrer begleitete und das Ende des Unterrichtes auf dem Markt vor der Kirche am Dulsberg abwartete. Immer wieder versuchte ich der Zeichnung des geplanten Regals ein wenig Schwung zu geben. Bis ich die Seitenlinie ein wenig nach oben hin einzog und in einer Rundung am oberen Ende wieder auf die vorherige Breite zurückführte. Da ich Herrn Vorbeck, dem Schultischler, häufiger geholfen hatte, erlaubte mir der Werklehrer Herr Meyer, nach Feierabend in der Unterrichtswerkstatt zu arbeiten. Ich besorgte Fichtenholz, schärfte Werkzeug, trennte vor der Faust auf, fügte und verleimte, hobelte von Hand aus und zinkte den Rahmen zusammen. Am zweiten Sonnabend war ich fertig und lieferte das Regal bei Fräulein Schröder per Fahrrad in der Kielmannsegg Straße ab. "Haben Sie denn heute Abend schon etwas vor?" wurde ich gefragt, als das Regal an der Wand befestigt war, "Es kommen: Heinz Müller, Herr und Frau Steglich und Sewerina zu Besuch. Kommen Sie doch einfach mit dazu. Als Einweihung für das Regal sozusagen!"
Obwohl ich mir inmitten den ehemaligen Lehrer erst ein wenig beschämt vorkam, war es bald sehr unterhaltsam. Herr Müller entpuppte sich als verständiger Handwerker, der die ausgeführte Arbeit fachkundig würdigte und Herr Steglich zeigte sich völlig unerwartet humorvoll und gesprächig, von ihm hörte ich zum erstenmal die Feststellung über eine Schinkenrolle: "Das sieht ja so gesündlich aus!" Ich begann, mich in solcher Gesellschaft recht wohl zu fühlen.
Immer mal wieder erfolgte eine Einladung zu Treffen mit Klassenkameraden oder Veranstaltungen in der Schule. Und ich traf mich besonders gern mit Inge und Peter aus der Parallelklasse in der Stadt. Spätere Schilderung vom Hausmeister, Herrn Curt Dauskardt: "Fräulein Schröder bei der Probenarbeit? Das Kommando kam laut aus der Mitte der zehnten Reihe. Auf dem Stuhl rechts der Aschenbecher, links Kaffeekanne und Becher, auf den Knien das Textbuch, so dirigierte sie das Geschehen auf der Bühne mit lauten, deutlichen Anweisungen. Für große Diskussionen war da keine Zeit und Gelegenheit. Alles musste schnell und zügig ausgeführt werden. Getobe hinter der Bühne? Für sowas gab es kaum Gelegenheit!" Inge Schröder muss eine ganze Reihe von Klassenspielen in ihrer Wandsbeker Zeit einstudiert haben.
Nachdem Inge Schröder 1961 nach Frankfurt zurückgekehrt war, weil die Waldorfschule dort dringend Ersatz für Lehrer in der Oberstufe benötigte, muss sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, Heinz Müller sei sehr schwer erkrankt, könne nicht mehr unterrichten. Ob ich ihn nicht mal besuchen wolle? Am Telefon wurde ich von Heinz Müller zu einem baldigen Besuch aufgefordert. In seiner Wohnung am Wandsbeker Markt traf ich ihn erfreulich munter an. Aber wie hatte er sich verändert! Die ursprüngliche Schlankheit war zur Magerkeit geworden. Tiefe Falten zogen um Augen Stirn und Mund. Die Möglichkeit zu Gespräch aber schien ihm nicht unangenehm zu sein. Nachdem ich seine Fragen nach meinem Tun und Lassen beantwortet hatte, bat ich ihn, ob er mir nicht von seiner Begegnung mit Rudolf Steiner erzählen möge. Er sah mich eine Weile wie prüfend von der Seite an. Aus heutiger Sicht vielleicht mit der Frage: na, was kann ich dem windigen Burschen da wohl anvertrauen?
Er begann zu schildern, wie seine Mutter ihn mitnahm zu einer sehr gebildeten Dame, für die sie die Wohnung rein hielt. Die Dame zog ihn in ein Gespräch über neue Ideen hinein. Und als sie seine Aufmerksamkeit und klare Auffassung geprüft hatte, sprach sie über Rudolf Steiner, zu dessen Vorträgen sie bisweilen weite Reisen unternahm. Schließlich gab sie ihm ein Buch mit Vorträgen von Steiner und lud ihn ein, sie wieder zu besuchen, wenn er das Buch gelesen hätte und es zurückbringen wolle. Dann würde sie das Gelesene gern im Gespräch mit ihm vertiefen.
Es folgte die Schilderung seiner ersten Begegnung mit Rudolf Steiner, dem er nach einem Vortrag vorgestellt wurde. Von seinem Bericht über die Jugendtagung 1921 blieb mir besonders in Erinnerung, Rudolf Steiner habe den versammelten Jugendlichen gegen Ende der Tagung geraten, wenn sie sich daheim wieder in Gemeinschaft träfen, dann sollten sie nicht die stenografierten Vorträge lesen, sondern sich gegenseitig mitteilen, welche Fragen sie beschäftigten, welche Fehlschläge ihre Bemühungen erlitten und welche Ergebnisse sie gewonnen hätten.
Bei der Verabschiedung auf dem Weg zur Wohnungstür ließ Heinz Müller mich einen Blick in ein kleines Zimmer tun. Darin stand eine Hobelbank mit Hobelspänen und Tischler-Werkzeugen, eine Staffelei mit einem Portrait Steiners in feinstem Aquarell, wohl kurz vor Fertigstellung. Der Raum war gänzlich in Fichte/Tanne frisch getäfelt worden. Die Ecken der Decke waren mit regelmäßigen Fünfecken verkleidet. "Womit ich mir so die Zeit vertreibe.", war seine Äußerung dazu.
Mitte der 60er Jahren drohte die Frankfurter Waldorfschule am Konflikt zweier Kollegen zu zerbrechen. Inge Schröder wurde gefragt, ob sie bereit wäre, als geborene Frankfurterin, die auch dort studiert habe, jetzt als erfolgreiche Oberstufenlehrerin einer Waldorfschule nach Frankfurt zu gehen, um allmählich wieder gegenseitiges Verstehen im Kollegium entwickeln zu helfen, wenn die beiden polarisierenden Kollegen die Schule verlassen hätten. Obwohl sie sich sehr mit Hamburg und der Schule in Wandsbek verbunden fühlte und besonders die Zusammenarbeit mit Helga Sewering ihr außerordentlich viel bedeutete - sie sagte in Frankfurt zu. Im Tausch kam eine Kollegin aus Frankfurt nach Wandsbek.
Nachdem ich in Lüneburg 1967 die Ausbildung zum Lehrer an Haupt- und Realschule begonnen hatte, fanden Briefwechsel und Besuche in Frankfurt häufiger statt. Bei langen Wanderungen in der Umgebung Frankfurts und an den Abenden kam es hin und wieder dazu, dass Inge Schröder aus Ihrem Leben erzählte.
Ihre Mutter muss sehr liebevoll und umsichtig das Miteinander von Tochter und jüngerem Bruder und dem Vater, der promovierter Diplom-Handelslehrer war, begleitet haben. Märchen, Erzählungen, häufige Spaziergänge in Parkanlagen, Teilnahme am Leben in der Christengemeinschaft, fröhliche Feste hatten angemessenen Raum. So war es für Bruder und Schwester von großer Bedeutung, aus welcher Porzellanform ein Pudding auf den flachen Teller gestürzt und alles fein abgebildet worden war. War es nun Fisch oder Traube?
Und der Unterricht bei ihrer verehrten Geigenlehrerin beeindruckte sie so, dass regelmäßiges tägliches Üben mit dem Instrument wie selbstverständlich gern, sorgsam und ausdauernd ausgeführt wurde.
Im Jugendalter fanden ausführliche Gespräche und lange Wanderungen mit dem Pfarrer Johannes Rath der Christengemeinschaft am Main entlang große Aufmerksamkeit, wie auch Besuche in dessen Familie. Pfarrer Rath hatte einige Novellen verfasst und malte feinsinnige Aquarelle. Von ihm hatte Inge Schröder sicheres Bestimmen von Pflanzen und von Bäumen im Winterkleid gelernt. Unter manchen Sonderbarkeiten hatte Pfarrer Rath die genau zu einander passenden Hälften eines zerbrochenen Steines mehrere hundert Kilometer von einander entfernt gefunden. Und eine Bockwindmühle eingehend sorgfältig beschrieben, wenige Tage bevor sie abbrannte. Als der Kirchenraum renoviert wurde, sah ich, wie er wenige Minuten vor Beginn des Kultus, den er zu halten hatte, den Elektro-Anschluss für die Orgel herstellte.
Der Vater war während der Kriegsjahre denunziert worden, weil er sich während des Unterrichtes unbedacht freimütig zur Parteipolitik geäußert hatte. Nach drei Monaten Untersuchungshaft erfolgte Freispruch mangels Beweises. Und die Mutter war Kriegs-Hilfsdienst verpflichtet worden.
Ähnlich wie es Loki Schmidt in ihren Erinnerungen schildert, war Inge Schröder in einem HJ-BDM-Orchester und genügte damit der erforderlichen Mitgliedschaft in einer Partei-Organisation.
Dennoch wurde sie im letzten Kriegsjahr als Flakhelferin eingezogen. Ob sie da ausschließlich für Hauswirtschaft eingesetzt war? Daran kann ich mich nicht erinnern, aber an den Bericht über eine prekäre Situation: an einem heißen Sommertag eroberte Inge nachmittags die Dusche für sich allein, um sich mal gründlich von Schweiß und Arbeitsschmutz zu befreien. Durch das halb geöffnete Oberlicht hörte sie lautes Gelächter, wendete den Blick in die Richtung - auf einer Bank standen die Kameraden und hatten sie durch den Spalt des Oberlichtes beobachtet. Fenster zuschlagen, sich abtrocknen, anziehen und aufs Fahrrad! Richtung vorgeordnete Dienststelle! Auf halbem Weg wurde ihr klar, dass ein so rücksichtsloses Vorkommnis dennoch kaum durch eine Maßregelung der Kameraden durch Vorgesetzte aus der Welt zu schaffen war. Und sie selber möglicherweise wegen ihrer Unachtsamkeit gerügt werden könnte. Also zurück und die Peinlichkeit zu vergessen suchen. Die Kameraden wirkten danach, ob solchen Verhaltens einem einzelnen Mädchen gegenüber, recht beschämt. Und suchten in Höflichkeit die verletzte Kameradschaft wieder herzustellen. Dies wohl auch, weil Inge sie nicht verpetzt hatte. Was sie aber wohl zu recht hatten befürchten müssen.
Im Jahr davor, 1943, hatte Inge Schröder die die Reifeprüfung abgelegt. Sie berichtete, eine ihrer Lehrerinnen habe den Mädchen nahegelegt, die Grenze im Umgang mit ihren im Krieg stehenden Freunden bei deren Heimaturlaub nicht ebenso streng einzuhalten, wie dies in Friedenszeiten üblich sei. Wer wisse denn, ob die Freunde je zurückkämen?
Das Kriegsende überstand Inge Schröder auf einem kleinen hessischen Bauernhof als Erntehelferin. Auch bis zur allmählichen Ordnung der staatlichen Verwaltung in der Nachkriegszeit behielt man die tüchtige, arbeitsame Helferin, was den mütterlichen Haushalt erheblich entlastete. Inge selber schilderte ein gewisses Gefühl von Stolz, wenn sie alleine ein ganzes Fuder Mist abgeladen und so "verzettelt" hatte, dass der Mist über dem Acker wie eine gleichmäßige Decke lag. Und der Bauer darüber hinblickte und nicht zur Forke griff, um nachzubessern. Hier lernte sie auch elegant mit der Hüte-Goaßel, mit "Schmitz", zu knallen, wenn die Rinderherde von der Weide zu holen war.
Die Familie musste sich mit einer Holzbaracke, einem Behelfsheim von sechzehn Quadratmetern in Königstein, im Taunus, einrichten. Der Vater wohnte zur Untermiete in einem Zimmer in der Stadt, um von dort aus dem Schuldienst nachzugehen. Neben dem an der Frankfurter Universität in Deutsch und Geschichte begonnenen Studium versorgte Inge zeitweilig den Vater mit Mittagessen.
Ab 1949 stand wieder eine kleine Wohnung zur Verfügung. In derselben Straße hatte Inge dann ihre Studentenbude.
Als der bekannte Goethe-Forscher Ernst Beutler ihr erstes Referat als fleißige Ausarbeitung beurteilte, sagte sie sich, das könne sie auch anders. Im folgenden Referat wählte sie freie, persönliche und selbständige Ausdrucksweise, die auch auf ihre Belesenheit Rückschlüsse ermöglichte. Dies fand bei Professor Beutler mehr Anklang und Anerkennung.
Vom Beginn der Lehrerausbildung Ende der sechziger Jahre war bereits berichtet. Die Zeit bis 1973 war von beiderseitigen Literaturvorschlägen begleitet. Beispiele: Marcel Proust, "Die Suche nach der verlorenen Zeit", Kurt Guggenheim, "Sandkorn für Sandkorn", "Riedland", "Wir waren unserer vier", Hermann Broch, "DerTod des Vergil", um einige zu nennen. Arbeiten des Biologen Adolf Portmann. Dann beschäftigten mich Schriftsteller, die von Steiner in Vorträgen erwähnt werden, wie zum Beispiel der Philosoph Herbert Spencer, dessen vielfältige Spuren nicht nur im Denken im englischsprachigen Raum deutliche Wirkungen haben. Oder Max Eyth: für ihn wurde von Steiner hervorgehoben, welchen tiefgreifenden Einblick er in die Schicksale seiner Romanfiguren zum Ausdruck bringt. Weiterhin Teilnahme an Tagungen an der Schule in Frankfurt zu Musik- und Mathematik-Unterricht.
Ein besonderes Erlebnis: das Bewerbungsgespräch in Stuttgart mit Herrn Kranich und Herrn Leber zur Aufnahme in den Lehrerkurs. Mit dem Ergebnis: meine Beschäftigung mit den Arbeiten von Freud, Adorno, Horkheimer ließen vermuten, dass mir der Zugang zur Waldorflehrerausbildung zu sehr verstellt sei. Deshalb lehnten sie die Bewerbung ab. Ich war derzeit recht depressiv und durch die Ablehnung eher noch mehr niedergeschlagen, verfiel aber auf dem Stuttgarter Bahnhof vor Antritt der Rückreise in mir völlig unbegreifliche Heiterkeit.
Auf der Fahrt zurück meldete ich mich bei Inge Schröder. "Wollen Sie nicht eben in den Kindergarten kommen?", wurde ich eingeladen. Unter dem Kindergartendach war eine Großraumwohnung für Inge Schröder eingerichtet worden. Daran grenzte ein Bodenraum, in dem einfache Übernachtung zwanglos möglich war; allerdings im Sommer recht warm - im Winter eiskalt. Über die stuttgarter Ablehnung meinte Inge Schröder nur: "Was meinen Sie? Die beiden können sich unter Umständen vielleicht auch geirrt haben?"
Mitte der siebziger Jahre konnte ich In Wandsbek Vertretungsunterricht im Werken übernehmen. Da Hessen und Hamburg versetzte Ferienzeiten hatten, war es möglich, Inge Schröder mehrmals bei Klassenspielen mit Bühneneinrichtung und Beleuchtung zu unterstützen, zum Beispiel bei Henrick Ibsen: "Peer Gynt" mit einer 12ten Klasse, mit der ich damals bei Unterrichtsversuchen im sechsten Schuljahr regelrecht untergegangen war; deren besonders energische Klassenlehrerin war Frau Steglich!
In solchem Zusammenhang ergaben sich auch wiederholt Begegnungen und Gespräche mit Herrn Steglich. Und ich konnte an einigen seiner Lichtbild-Vorträge über Sakral-Kunst in Norditalien teilnehmen. Nie fiel eine Andeutung, dass er mir mein verletzendes Schülerverhalten ihm gegenüber nachtrüge! Und das war gemeiner, als ich es später mir gegenüber von Schülern erlebt hatte: mit Absicht falsch singen, miese Sprüche zum Nachbarschüler. Und einmal, Herr Steglich hatte über die vierte Sinfonie von Anton Bruckner geschildert, dass die Äußerung des Komponisten selber, es werde eine Wald-Jagd-Szene musikalisch dargestellt, sicher nicht zutreffe. Die besondere Führung der Thematik und Harmonik lasse aber vermuten, dass in dieser Komposition, dem frommen Komponisten selber nicht einsichtig werden konnte, dass diese das geheimnisvolle Geschehen während der Messe der Katholischen Kirche zum Inhalt habe. In der folgenden Stunde leitete er mit der Frage nach dem Inhalt der vergangenen Stunde ein. Worauf ich antwortete: "Sie haben etwas getan, von dem Sie zuvor gewarnt hatten: man solle kein Musikwerk auslegen!" Darauf er vreärgert: "Was soll man da noch tun, wenn es, wie Perlen vor die Säue geworfen, ankommt!" Habe mir verkniffen anzufügen: '"Die Sau!" Denn ich war der einzige gewesen, der sich geäußert hatte.
Jedes Frühjahr war überschattet von den unseligen Arbeiten, die mit den Abiturprüfungen verbunden waren. Inge Schröder schilderte, sie halte eine Handvoll Füllfederhalter bereit. Jeder mit anderer Tintenfarbe. Erstmal sähe sie die Aufsätze durch und korrigiere das Gröbste mit ihren Füllern heraus. Dann suche sie nach passender Argumentation für die nötige Bewertung. So bringe sie den einen und anderen noch so eben durch.
Mit dem zuständigen Schulrat, der sie ob vielseitigen Interesses und enormer Belesenheit wohl sehr schätzte, muss Inge Schröder in vertrauensvollem Einvernehmen gestanden haben. Wenn sie da mal vorbeugend auf Mängel an vorschriftsmäßigen Qualifikationsanforderungen von Kollegen meinte sprechen zu müssen, wandte er schnell ein: "Wissen Sie, so genau will ich das alles am besten gar nicht wissen!"
Es ist wohl auf Inge Schröders beharrliches Betreiben hin von der Schule nicht versäumt worden, angrenzende größere Grundstücksflächen rechtzeitig für mögliche spätere Erweiterungen und Nutzungen hinzu zu erwerben.
Ganz besonderer Erinnerung sind Inge Schröders Kochkünste würdig! Ob zu Hause oder auf Klassenreisen - aus Vorhandenem oder schnell Hinzuerworbenem zauberte sie überraschende Genüsse! Dennoch darf ich es mir zuschreiben: ihr Repertoire wurde durch mein Dazutun erweitert. Während einer Musik-Tagung hatte sich Nachmittagsbesuch angekündigt. "Soll ich Brötchen backen?", fragte ich. "Wenn Sie das können? Warum nicht?" Und pünktlich um vier stand der Korb mit knusprigen, warmen Hefe-Weizenvollkorn-Brötchen bereit. Danach begann Inge Schröder ebenfalls Brötchen, dann Brot zu backen und erweiterte das ganze für den Unterricht. Ihr und Sewerina (Helga Sewering) lagen die "Plüschohren" (Schülerinnen, Schüler die es mit dem Lernen schwer hatten) schon immer ganz besonders am Herzen. Um diesen mal eine Entlastungsphase zu bieten, wurden für drei Wochen den Neuntklässlern in der Hauptunterrichtszeit Wahlkurse mit praktischen Aufgaben angeboten. Bei Inge Schröder begann jeder Morgen früh um 5 Uhr mit Einheizen des Backofens im Schulgarten mit Feuerholz. Das musste Tage zuvor zugeschnitten und gespalten werden. Am Nachmittag zuvor wurde Sauerteig angesetzt, der am Morgen dann geknetet und zu Brötchen und Brot geformt wurde. Dann folgte Hefeteig, zum Schluss Kuchen und Gebäck. Verkauf auf dem Schulhof in der 10-Uhr-Pause.
Rezepte mussten ausgearbeitet und umgerechnet werden, Einkauf-Verkauf wurde bilanziert, einfache Buchhaltung geübt, alles für den kommenden Tag musste vorbereitet werden und zu allem Einsatz- und Ablauflisten ausgearbeitet und geschrieben werden. Ebenfalls wurden Plakate für die Verkaufswerbung hergestellt. Und der Gewinn errechnet und gerecht verteilt werden. Eines Nachmittags nahm Inge Schröder ein Blech mit Brötchen aus ihrem Backofen. Als ich den Duft des frischen Brotes lobte, entgegnete sie: "Das ist ja noch garnichts! Wenn man den Ofen öffnete und die Brötchen hüpften heraus wie junge Hasen, ja dann . . . !" Und lachte.
Inge Schröder war viele Jahre in Folge während der Sommerferien in Jugoslawien, auf der Insel Rab. Ingrid und ich entschlossen uns, einen Teil der Ferien mit Inge Schröder dort zu verbringen. Mich hatte Inge Schröder ja häufig auf Wanderungen in Frankfurts Umgebung mitgenommen. Auf Rab merkte ich, dass sie zu Hause sehr Rücksicht genommen haben musste. Denn auf Rab waren die Wanderungen ungewohnt ausgedehnt und - ich hatte Tennisschuhe, für mich auf dem Kalkboden das völlig Falsche! An einer Bucht im Osten hörten wir noch eben: "Wartet am besten mal hier. Ich geh da mal eben zu dem Boot.", da war sie schon unterwegs über 600m den Strand entlang. Aber mit so weit ausholendem Schritt, ich hätte bestimmt nicht nebenherzulaufen vermocht! Das war für meine Selbsteinschätzung recht ernüchternd. Ohne es merken zu lassen, passte Inge Schröder Anforderung immer rücksichtsvoll ihrer Begleitung an.
So ebenfalls im übertragenen Sinne auf die gedanklichen Fähigkeiten ihrer Umgebung. In Schulführungsfragen und den zugrundeliegenden Ideen waren dem allerdings Grenzen gesetzt. Und das konnte nicht von jedem angemessen beurteilt werden. Von manchem, der intellektuelle Überlegenheit nicht anerkennen und verkraften konnte, wurde dies als Ausübung von Macht empfunden. So geriet Inge Schröder innerhalb der Schule, der sie ihr ganzes Leben widmete, über lange Zeiten in Einsamkeit. Dadurch ließ sie sich aber am Einsatz für "ihre" Schule nicht hindern.
In den 90er-Jahren war Inge Schröder gelegentlich in Hamburg. Meist wohnte sie bei Marion Volk in Ahrensburg. Von hier aus besuchte sie frühere Kollegen und ehemalige Schüler. Manchmal trafen wir uns in der Schule, wo sie sich daran freute, dass mir ein paar Sachen einigermaßen gelangen. Oder wir wanderten auf für sie von damals her gewohnten Wegen durch die Stadt. Als Beschwerden in den Kniegelenken sie zwangen, die Reisetätigkeit einzuschränken, blieb es bei sporadischen Briefen und Telefongesprächen, um gegenseitig zu berichten.
Mir machten Folgen eines Unfalles so zu schaffen, dass ich Anforderungen des Unterrichtens nur mit größter Anstrengung noch bewältigen konnte.
Bereits längere Zeit vor dem Ausscheiden aus der Schule übernahm Inge Schröder Vorstandsaufgaben in einem Altenheim der Christengemeinschaft, etwas außerhalb Frankfurts gelegen.
Nach Ende der Tätigkeit an der Schule zog sie in dieses Heim. Ein Besuch in Frankfurt wurde verschoben, bis es mir besser gehen würde. Und dann war es plötzlich dafür zu spät.

Der Text entstand in Zusammenarbeit mit Inge Schröders Bruder, dem Geigenbaumeister Schröder, Frankfurt.

Inhaltsverzeichnis

1953 an die Schule gerichteter Lebenslauf

Ingeborg Schröder Frankfurt a. M. am 25. August 1953
Frankfurt a. M.
Gerorg Speyer Str. 19
bei Urbom

An den Verwaltungsrat der Rudolf-Steiner-Schule in Hamburg-Wandsbek

Gern möchte ich nach Beendigung staatlicher Ausbildung an einer Waldorfschule unterrichten.
Ich bin am 27. Oktober 1924 in Frankfurt am Main geboren. In Frankfurt am Main besuchte ich die Schule von Ostern 1931 bis Ostern 1943. Nach dem Abitur war ich zunächst im Arbeitsdienst, erlernte im Sommer 1944 die Krankenpflege im Städtischen Krankenhaus Wiesbaden und war dann bei einer Scheinwerferbatterie des weiblichen Arbeitsdienstes bis zum Ende des Krieges als Sanitäterin tätig.
Im Winter 1946 begann ich mein Studium an der Frankfurter Universität. Ich studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie und bestand im Februar 1951 das Wissenschaftliche Staatsexamen an der Universität Frankfurt mit "gut".

(Themen meiner Prüfungsarbeiten:

"Gebrauch und Bedeutung der Wortes -heiter- in Goethes Sprache in Goethes Prosaschriften."
und:
"Das Verhältnis des jungen Hegel zum Christentum.")

Im Sommer 1951 begann ich eine größl;ere Arbeit über das Thema:

"Gebrauch und Bedeutung des Wortes -heiter- in Goethes Sprache.
(Ein Beitrag zum Verständnis von Goethes Leben und Werk in Gestalt einer Wortuntersuchung)",

die inzwischen fast fertig ist.

Ich habe das erste Jahr meiner Referendarzeit (Herbst 1951 - Herbst 1952) in den Landerziehungsheimen Hohenwehrda Günfeld und Buchenau bei Garsfeld gearbeitet.
(Hohenwehrda: Mädchenschule , Mittel- und Oberstufe, Buchenau: Koedukation, Unterstufe)
Seit Herbst 1952 arbeite ich an der Ziehen-Schule in Frankfurt a. M.

Ich bin in der Christengemeinschaft erzogen und kenne die Anthroposophie durch eigenes Studium seit 1945. Auch in die Literatur über Waldorf-Pädagogik habe ich mich bereits während meiner Studien- und Referendarzeit einzuarbeiten versucht.

Im Sommer 1947 nahm ich an den Anthroposophischen Hochschulwochen teil und machte an Ostern 1949 die Lehrertagung in Stuttgart mit. - Fast zwei Jahre unterrichtete ich einen Jungen (15 Jahre), der keine öffentliche Schule besuchen konnte, in allen "Fächern".

Es wäre mir lieb, wenn ich zunächst erst einmal, ohne Seminarausbildung in Stuttgart gehabt zu haben, an einer Waldorfschule mitarbeiten könnte. Vielleicht ließe sich die Seminarausbildung zu einem späteren Zeitpunkt nachholen.

Inhaltsverzeichnis