Gisela Janssen
(Eisleben in Thüringen 30.09.1917 bis 29.07.1953 Gramais in Österreich)

Im neunten Schuljahr übernahm Gisela Janssen in der ehemaligen Klasse von Werner Lamp 1951 den Unterricht in Deutsch und Geschichte und auch die Klassenbetreuung. Sie wirkte auf den ersten Blick klein, schmal und zierlich, im Auftreten aber temperamentvoll, energisch und sportlich. Es hatte sich sofort herum gesprochen: sie fährt mit dem Motorrad zur Schule.
Und Fragen, die sich um Technik drehten, brachten Fräulein Janssen nicht in Verlegenheit. Darin war Herr Lamp immer mal recht unsicher. Die Wirkungsweise der Atombombe zum Beispiel konnte Fräulein Janssen spontan einfach und gut verständlich erläutern.

Seit sie sich aus Herrn Lamps energisch durchgreifender Zucht entlassen fühlte, hatte die Klasse einen lauten, dabei etwas behäbigen und aufsässigen Charakter angenommen. Zum Glück verfügte Fräulein Janssen ebenfalls über rasche Entschiedenheit in Stimme und Bewegung. So konnte ein kräftiges Machtwort von ihr die nötige Arbeitsruhe im Augenblick wieder herstellen. Das gelang mit uns leider nicht allen Lehrern. Von Dr. Renzenbrinck ist nach dem Französischunterricht in der siebten Klasse überliefert: "Lieber klopfe ich Steine, als euch zu unterrichten!"
Schon gleich zu Anfang kümmerte sich Fräulein Janssen um die Schüler, die ein Musikinstrument erlernten. Für das Sommerfest der Schule, das 1951 auf dem gerade in Nienstedten für die Zweig-Schule erworbenen Grundstück stattfand, hatte sie von J.A.P. Schulz, die "Serenata im Walde zu singen" mit Chor und Instrumenten aus unserer Klasse aufgeführt. Das waren Geigen, Cello und Kontrabass, Klarinette, Fagott und Horn. Wir bekamen den Auftrag: "Besorgt euch mal eure Stimmen vom Beethoven Septett in der Musikbücherei!" Kopiergeräte gab es damals noch kaum, also mussten wir die Stimmen abschreiben, denn die Ausleihzeit war begrenzt. Dann verabredete sie einen regelmäßigen Nachmittag, um mit uns zu proben. Satz für Satz arbeiteten wir uns mühsam hindurch. Brachten es soweit, dass wir während der zehnten Klasse die Eurythmielehrerinnen der Schule mit Trio und Menuett und dem Thema mit Variationen zu einer Monatsfeieraufführung in der Walddörferschule begleiten konnten.
Wenn im Unterricht gelegentlich Musik berührt wurde, konnte es geschehen, dass Fräulein Janssen im Satz abbrechen musste, besonders wenn es um Wagner ging, weil sie von dem geschilderten Moment in der Musik so ergriffen war. Mit einem ein wenig verlegenen Lachen fügte sie etwa an: "Das müsst ihr selber mal hören! Dann versteht ihr die enorme Wirkung dieser Musik."
Gegen Ende des neunten Schuljahres machte Fräulein Janssen eine Klassenreise mit dem Bus ins Sauerland. Zur Begleitung waren der Musiklehrer, Herr Klose, und eine Studentin, Fräulein Joachimsen, mitgekommen. Weit entfernt vor dem Ziel Hilchenbach brach die Deichsel des Gepäckanhängers. Das Gepäck wurde in den Bus gepfercht und zu zweit blieben wir zur Bewachung beim Anhänger. Kundeten einen Schmied aus und schoben den Anhänger mühselig dorthin. Mehrere Stunden später kam der Bus mit ein paar Klassenkameraden zurück. Da Sonntag war, mussten wir auf die Reparatur des Anhängers warten und im Bus übernachten. Am Montagmorgen war die Reparatur ausgeführt, als wir von kurzem erfrischendem Besuch im Freibad zurückkamen. Der Busfahrer: "Da habt ihr einen tüchtigen Schmied gefunden! Prima Arbeit! Sogar die Schlacke vom Schweißen wurde sorgfältig entfernt!" Und wenige Stunden später waren wir in Hilchenbach.
Von hier aus wurde Architektur des Mittelalters mit dem Bus aufgesucht und eingehend betrachtet: Marburg mit Schloss und Elisabethkirche, Limburg mit dem Dom, das Kloster Maria Laach. Es erklang Gregorianischer Choral, der seit Jahrhunderten dort gepflegt wird, als wir behutsam und leise in die Kirche eintraten. Und die hochragenden Säulen und Gewölbe in stiller Ehrfurcht auf uns wirken ließen.
Vor allem sollten wir aber einen Eindruck von der Schwerindustrie im Sauerland gewinnen. Eines Morgens brachen wir früh zu einem weiten Fußmarsch zum nächsten Industrieort auf. Herr Klose, Hanni und beide Ingrids, Klaus und ich begaben uns an die Spitze des langezogenen Zuges. Aber nach kurzer Zeit schon war von der übrigen Klasse nichts mehr zu sehen. Wir wussten uns auf dem richtigen Weg und besuchten eine an der Straße liegende Kurbelwellen-Dreherei. Dann ging es weiter zu unserem Ziel, einer großen Gießerei. Dort wurde uns ein Überblick über den gesamten Betriebsablauf geboten: von der Formerei, zum Erzlager, zu Hochofen, Abstich und Bessemerbirne, zu Guss und fertigem Gussstück.
Am Nachmittag machten wir uns auf den Weg zurück. Die Mädchen fanden schnell eine Mitfahrgelegenheit per Autostop. Und wir kamen rechtzeitig zum Abendbrot zu Fuß an. Nun erfuhren wir, dass die Klasse eine falsche Abzweigung genommen und das Ziel verfehlt hatte.

Nach dem Unterricht fragte Fräulein Janssen mich einmal, ob ich ihr vielleicht in ihrem Garten helfen könne. Sie schlug Sonntagnachmittag vor, und pünktlich um halb drei traf ich ein. Sie zeigte mir das Beet, das umgegraben werden sollte, gab mir den Spaten in die Hand, sah wenige Spatenstiche lang zu, unterbrach mich kurz, griff zum Spaten und erläuterte: "Du brauchst, was du auf dem Spaten hast, garnicht so weit hoch zu heben. Gleich, wenn der Spaten über der Erde ist, drehst du ihn um. Das spart enorm die Kräfte!" Dann ließ sie mich alleine weitermachen. Nach einiger Zeit wurde ich zu Tee und Kuchen ins Haus geholt. Dort hatte sich inzwischen eine fröhliche Tafelrunde versammelt. Der junge Musiklehrer, Herbert Klose, Fräulein Keymling und Fräulein Joachimsen waren mir bekannt. Den lebhaften Gesprächen über alles mögliche hörte ich aufmerksam zu. Zu Martin Luther konnte ich beitragen, er wäre Augustiner-Mönch gewesen, nicht Benediktiner, wie jemand geäußert hatte.
Nach einer weiteren Stunde im Garten wurde ich mit Dank entlassen. Und erst viel später ahnte ich, dass sie mir auf die Sprünge helfen wollte. Denn ich verstand es, mich erfolgreich vor Anforderungen und Aufgaben jeglicher Art zu drücken.
Nach einer Blinddarmoperation besuchte Fräulein Janssen mich im Krankenhaus und schilderte, was zur Zeit im Unterricht behandelt werde. So war ich darauf vorbereitet, dass das Schauspiel "Egmont" von Goethe einstudiert wurde, als ich zurückkam. Zwei Mitschüler hatten die Ausrichtung der "Bühnentechnik" übernommen. Aber bis dahin noch kaum etwas zustande gebracht. Der Saal unserer Schule war durch Bomben zerstört worden. Alle Schulfeiern mussten in den dafür angemieteten Sälen anderer Schulen stattfinden. Die Walddörfer-Schule, Helene-LangeSchule-, Schule-am-Berlinertor, Schule-Curschmannstraße boten uns dafür Obdach. Für diese Aufführung hatten wir die Aula des nahegelegenen Mathias Claudius Gymnasiums erhalten. Der junge Physiklehrer unserer Schule, Herr Gabert, lieh ein paar Schiebewiderstände, um die Beleuchtung der Bühne aufzuwerten. Allerdings war von meinem Platz hinter der Bühne, wo ich zwischen Kabeln und vor Schaltern und Widerständen hockte, der Ablauf des Geschehens nur zu hören. Beleuchtungswechsel also ziemlich auf gut Glück. Von freundlichen Klassenkameradinnen wurde das als der "ruhende Pol der Aufführung" bezeichnet.

Klassenkameradin Maria Barbara Hellrung erinnert, dass Gisela Janssen häufiger kleinere Ausflüge mit Gruppen aus der Klasse in die nähere Umgebung Hamburgs unternommen hatte. Sie pflegte dabei den Radfahrern mit dem Motorrad langsam hinterher zu fahren. Bei Rastpausen wurden alle möglichen Spiele durchgeführt. Dabei kam es hin und wieder auch zu Rangeleien, bei denen Fräulein Janssen sich nicht zu schade war, tatkräftig mit einzugreifen, das belegen Fotos!

Vor Weihnachten 1952 schlug Fräulein Janssen vor, ich könne ihr doch beim Aufstellen der Pulte helfen. Dann könne ich umsonst bei der Aufführung des Weihnachtsoratoriums, Teile 4 bis 6, in der Petrikirche zuhören, wenn ich hinterher auch wieder mit abbauen würde. Und diesmal sei sie wirklich erleichtert, denn endlich müsse sie einmal nicht mehr die berüchtigte Holzhackerarie spielen. Jetzt seien endlich mal jüngere damit dran! Als ich sie pünktlich an der Petrikirche traf und wir mit dem Aufbauen begannen, sagte sie: "Die Geigerin hat abgesagt! Nun muss ich doch wieder spielen!" - "Und wann kommen die Hörner?" - "Ja, wissen Sie, die sparen wir uns diesmal. Die Trompeter bringen ihre Filzhüte mit. Die werden über die Schallbecher gehängt. Haben wir neulich ausprobiert: es klingt täuschend wie die hohen Hörner. Und die Trompeten werden sowieso gebraucht. Es ist auch alles immer eine Kostenfrage."
Wirklich: der Klang mit den übergehängten Hüten war dem der Bachhörner sehr ähnlich! Und die gefürchtete Holzhackerarie hat Gisela Janssen wieder sportlich, elegant und klangschön absolviert!

Elftes Schuljahr. Von den über fünfzig Schülern konnten nur knapp zwanzig die Schule 1953 weiterhin besuchen. Die Eltern der anderen hatten sie eine Berufsausbildung beginnen lassen. Unsere Parallelklasse, die mit Fräulein Somann bereits 1946 begonnen hatte, blieb nahezu vollständig. Diese Eltern waren wohl mit den Ideen der Waldorfpädagogik fester verbunden.
Besonders ernst traf uns die Nachricht, unsere Klassenlehrerin, Gisela Janssen, sei während der Ferien tödlich verunglückt.

Gemeinsam mit dem Musiklehrer, Herbert Klose, und dessen junger Frau, Sieglinde Müller Klose, Klassenlehrerin der vierten Klasse, und mit der jungen Lisa Joachimsen, die uns damals ins Sauerland begleitet hatte, war sie für die Ferien nach Österreich gefahren. Mit zwei Motorrädern hatten sie die weite Strecke mit Gepäck sicher bewältigt und waren heil in Gramais angekommen. In weiten Tageswanderungen wollten sie Leib und Seele auffrischen. Gisela Janssen hatte das Johannes-Evangelium in griechischer Sprache mitgenommen, um eine eigene Übersetzung zu versuchen, erzählte Herr Klose später.

Dies geschah am 29 Juli 1953:
Die Gruppe kam an einen Bach. Die nächste Brücke lag etwas weiter entfernt. Herr Klose watete zuerst hindurch. Eben hat er die Uferböschung erklommen, hört er hinter sich ein heftiges Geräusch. Im Umdrehen sieht er eine hohe Flutwelle vorrüberschießen und die drei Frauen mit sich reißen. Hilfe unmöglich! Eine Grundmure musste vom gestauten Wasserdruck gelöst worden und zu Tal gestürzt sein, so die Erklärung kundiger Einheimischer. Erst Tage später wurden die Leichen von Gisela Janssen und Sieglinde Klose geborgen. Von Lisa Jochimsen fehlt jede Spur.

Vor kurzem (August 2010) nannte ich in einem Gespräch mit dem Architekten unserer Schule, Jürgen Karsten, den Namen "Gisela Janssen". Zu meiner Überraschung kam sofort die freudige Frage: "Wissen Sie eigentlich, was Gisela Janssen für uns hier in Berne bedeutet?" - "Sie war zwar unsere Klassenlehrerin. Aber von ihrem Leben außerhalb der Schule habe ich nie mehr erfahren, als dass sie eine bekannte Musikerin war." - "Da müssen sie nochmal wiederkommen, wenn meine Frau da ist. Denn ich habe Gisela Janssen erst nach Ende des Krieges richtig kennengelernt. Aber meine Frau hat vorher bei ihr Cellounterricht gehabt und kann viel mehr berichten!"
Frau Karsten berichtete, wie sie bereits nach wenigen Unterrichtsstunden von Gisela Janssen aufgefordert worden war, im Orchester mitzuspielen. Sie habe sich gesagt, wenn Fräulein Janssen es mir zutraut, dann kann ich es ja versuchen! Mit dieser Einstellung hat Gisela Janssen viele Jugendliche und Erwachsene begeistert. So wie es auch Loki Schmidt in "Erzähl doch mal von früher" von sich selber beschrieben hat, wie sie am BDM-Orchester unter der Leitung von Gisela Janssen teilgenommen hat.
Bei einem Besuch im Elternhause von Frau Karsten bleibt Gisela Janssen lange vor einem Fach im Bücherregal stehen und betrachtet die violetten Buchrücken. Um anschließend erst vorsichtig (die Anthroposophische Gesellschaft war verboten worden), allmählich ausführlicher mit den Eltern über Anthroposophie ins Gespräch zu kommen. Frau Karstens Vater hatte zudem eine schöne Tenorstimme, die Mutter einen wohlklingenden Sopran. Schon sind beide für eine Bachkantate verpflichtet und Fräulein Janssen studiert mit ihnen die Partien. Bald hat Gisela Janssen in den Walddörfern Chor und Orchester soweit: neben vielen kleineren Werken studiert sie 1944 das Weihnachtsoratorium ein. Frau Karstens Vater muss den Evangelisten übernehmen, ihre Mutter eine Sopranpartie. Und beide singen im Duett.
Obwohl am Karfreitag 1945 vormittags ein wenn auch nicht ganz so schwerer Bombenangriff auf Hamburg erfolgt, entschließt man sich, die einstudierte Aufführung der Matthäus Passion dennoch am Nachmittag zu beginnen. Was mit zunehmender Dämmerung schließlich dann nicht ganz zuende geführt werden kann, da das Verdunkelungsgebot noch immer galt.
"Mit Musik etwas bewirken" sei ihr Anliegen gewesen, fasst Herr Karsten zusammen. Und seine Frau ergänzt: "Und Richtunggebend für die Jugend habe sie gewirkt! Sie habe Berne inspiriert!"
"Es war das einzige, was wir hatten.", berichtet Frau Schmidt-Bardorf, "Sonst gab es ja nichts in diesen Jahren für uns Jugendliche. Nur Gisela Janssen mit ihrem Geigenunterricht für meine Geschwister und mich und Freunde hier in Berne und den Walddörfern. Und die Proben und Aufführungen, die Gisela Janssen so energisch, anspruchsoll und vor allem so begeisternd zu leiten verstand.
Dabei war sie äußerst bescheiden, nichts verlangte sie für sich selber. Meiner Schwester hatte sie die ersten Anfangsgründe auf dem Cello beigebracht. Nun wollte meine Mutter gern etwas dafür bezahlen. Sie reichte also Gisela Janssen etwas schüchtern einen größeren Schein. "Kommt ja gar nicht in Frage!", reagierte Gisela Janssen. Als meine Mutter sich weigerte, das Geld zurück zu nehmen, wurde der Schein gefaltet und in das F-Loch des Cellos geschoben! So war sie eben!"
Als die ehemaligen Schüler Gisela Janssens nach und nach aus dem Krieg zurückkehren, kann sie ein reiches Musikleben mit dem Geigenunterricht, Quartetten, Orchester, Chor in den Walddörfern weiter entwickeln.
Frau Sigrid Lindström erinnert sich lebhaft an Unterricht und späteres Mitwirken im Bann-Orchester ("Bann" wie "Gau" altertümelnde Gebietsbezeichnungen der Nationalsozialisten, und Frau Schmidt-Bardorf weist darauf hin, es habe nur dieses, kein weiteres BDM-Orchester gegeben, wie Loki Schmidt es nennt). In diesem Orchester hätten sich viele getroffen, die etwas anderes suchten, als in den Pateiorganisationen zu finden war. Mitglieder der verbotenen Christengemeinschaft und Anthroposophischen Gesellschaft, christlicher Kirchen und vor allem Jugendliche. Wie Loki Schmidt beschrieb, reichte die Mitgliedschaft in diesem Orchester als Nachweis "parteipolitischer Zuverlässigkeit".
Nach Kriegsende sei das Orchester beisammen geblieben. Die letzten beiden Arbeiten mit Gisela Janssen seien 1952 Proben und Aufführung des Requiems von W. A. Mozart mit dem Oberstufenchor der Rudolf Steiner Schule, Leitung Musiklehrer Herbert Klose, in der Eingangshalle der Schule. Und dann sei noch das sorgfältige Studium der "Kunst der Fuge", von J. S. Bach, gefolgt. Wobei zu jeder Fuge eine eingehende analytische Erläuterung durch Gisela Janssen erfolgt sei.

Aus: Loki Schmidt: "Erzähl doch mal von früher!" Hoffmann und Campe Verlag, S. 60 bis 64

In ihren Erinnerungen, "Loki" und "Erzähl doch mal von früher!", beides Hoffmann und Campe Verlag, würdigt Loki Schmidt Gisela Janssen, damals Leiterin des Bann-Orchesters aus BDM und HJ, als fabelhafte Musikerin. Und im Nachhinein habe sie erst eingesehen, dass Gisela Janssen jedes Gespräch unterbunden hatte, um während der Proben keinerlei politische Äußerung aufkommen zu lassen, als Schutzmaßnahme sozusagen für manchen der beteiligten Jugendlichen.

Anmerkungen und Ergänzungen:
Lieber Herr Kolligs!
Besten Dank für den übersandten Text. Wir haben uns ihn gut durchgesehen und möchten nun antworten mit ein paar Korrekturen und auch Anmerkungen.
Meine Frau hatte keinen Cellounterricht bei Frau Janssen, denn diese gab nur Geigenstunden, lediglich ein paar einfuhrende Übungen wurden gegeben.
Sie sprechen von einem Chor in Bergstedt. Der ist uns nicht bekannt, Meinten Sie Berne? Das wäre zutreffend.
Loki Schmidt schreibt über die energische und zielstrebige Art in der Orchesterarbeit von Gisela Janssen. Es war ein BDM-Orchester. Eine andere Form wäre zu der Zeit gar nicht möglich gewesen. Frau Janssen hatte den Mut, sozusagen die Verkleidung mitzumachen aber dabei völlig sachlich nur die Musik sprechen zu lassen. Das war damals nicht ungefährlich.
Die musikalische Arbeit in Berne und Volksdorf ergab sich aus den Geigenstunden, die Frau Janssen gab und führte dann dadurch zu Kontakten mit musikalisch interessierten Elternhäusern. So sind dann Auffuhrungen, Chor und Orchester trotz der Schwierigkeiten durch Nationalsozialismus und Kriegszeiten entstanden. Dabei waren Jung und Alt - soweit die Männer nicht eingezogen waren - miteinander engagiert und hatten ihre Freude an der zeitlosen Aussage der Musik.
Dass in Berne so viel Reaktion zu verzeichnen war, erklärt sich daraus, dass hier zahlreiche Familien wohnten, die durch Anthroposophie (Zweigarbeit, biol.dyn.Wirtschaftsweise, Christengemeinschaft) Verbindung untereinander pflegten und zu Frau Janssen fanden. Das setzte sich nach dem Krieg lebhaft fort und führte z. B. zu der musikalischen Begleitung der Weihehandlung in der Johnsallee.
Später setzte sich dies fort unter der Leitung von Sigrid Lindström und Hilde Schmidt-Bardorf auch in Volksdorf mit ständigem Gemeindeorchester, das auch heute noch arbeitet. Die Arbeit von Gisela Janssen in den Walddörfern endete mit ihrem Arbeitsbeginn als Lehrerin an der Wandsbeker Schule. Wann war das ?
Gisela Janssen hat also mit ihrer tatkräftigen und unkomplizierten Art vielen Menschen geholfen, den Weg zur Musik zu finden. Darin liegt wohl ihr größtes Verdienst.
Herzlichen Dank für Ihre Bemühungen um dies interessante und wichtige Menschenbild.
Wir grüßen Sie herzlich
Jürgen und Elisabeth Karsten

Meine Erinnerungen an Gisela Janssen

Günther Heuschkel (verfasst 2010)

Hier möchte ich etwas über meine Begegnung mit Gisela Janssen berichten und darüber, welche Bedeutung sie für mein Leben gehabt hat. Als Kind habe ich gern und viel gesungen; ich hatte einen schönen hellen Sopran. Als die Stimme dann dunkler wurde, hat mir meine Tante eine Geige geschenkt und auch Geigenunterricht spendiert. Da hatte ich das Glück, in der Jugendmusikschule Gisela Janssen als Lehrerin zu bekommen, wenn auch nur für kurze Zeit. Sie gab mir gleich anspruchsvolle Etüden und zwar solche, die geeignet waren, mein emotionales Engagement anzusprechen, und so mein Interesse an dem Geigenspiel gewaltig zu verstärken.
Ich kam dann zu anderen Lehrern, der Krieg brach herein, ich wurde eingezogen, geriet in Kriegsgefangenschaft und wurde schließlich 1946 entlassen. Dann begegnete ich ihr wieder – in der U-Bahn – und fragte sie gleich, ob sie mir nicht wieder Unterricht geben könnte. Das geschah auch. Ich fuhr mit dem Fahrrad, das Instrument auf dem Rücken, von Barmbek nach Berne, wo sie sich im Blackshörn mit Gudrun Keymling eine Wohnung teilte. Sie lebte sehr bescheiden, und es war mir immer sehr eindrucksvoll, wie sie ein vollständige Bewußtsein hatte von allem, was da so herumlag, und sie hatte viel Geduld mit mir. Nach einiger Zeit lud sie mich ein, Quartett mit ihr zu spielen. Ich hatte einen tüchtigen jungen Cellisten mitgebracht, Ralf Bornhold, und mit von der Partie war auch Friedi Häckermann. Gisela Janssen riet mir zur Bratsche, weil ich für die anspruchsvolleren Geigenparts nicht genug konnte. Ich hatte zu spät mit dem Geigenspiel angefangen. Aber dann ging es schnell richtig los. Eines der ersten Werke, die wir uns vornahmen, war ein später Beethoven: das Quartett in cis-moll. Wir spielten die Kunst der Fuge, Beethoven (am liebsten den späten), seltener Haydn, manchmal Reger, auch Schubert und immer wieder Mozart. Wir haben sehr intensiv und ernsthaft geprobt, aber wir waren auch sehr nachsichtig miteinander und es wurde viel gelacht. Häufiger kamen Gäste hinzu, so z. B. Herbert Klose, Ingrid Reinker (Dr. Küstermann) oder Edith Klein und wir spielten dann Quintette von Mozart und Bruckner. Zu Hubertus Diestler fuhren wir hin. Für besonders schwierige Stücke überließ Gisela Janssen dem Erfahreneren die erste Geige.
Sie war mutig, geistesgegenwärtig, ehrgeizig, sehr hilfsbereit und sehr musikalisch; ihr Spiel war konzentriert und ausdrucksvoll. Und sie war ein tief religiöser Mensch, was sie wohl immer wieder zu Bach und Bruckner hingezogen hat. Mir gegenüber, der ich damals keiner Kirche angehörte, hat sie geäußert, daß die Menschenweihehandlung sie noch viel tiefer bewegte als die Matthäuspassion. Die Kunst der Fuge hat sie mit einem kleinen Orchester, in dem ihre Schüler und ein Kreis von Freunden mitspielten, so erarbeitet, daß sie uns nicht nur die Entwicklung der Formen deutlich gemacht hat, sondern daß wir die ganze Größe und den tiefen Ernst des Werkes erleben konnten. Und sie hat sich immer wieder um die Aufführung der großen Werke der Kirchenmusik bemüht. Schon während der letzten Zeit des Krieges, als ein Fliegeralarm auf den nächsten folgte und als ich noch in der Kriegsgefangenschaft war, hat sie die Matthä uspassion aufgeführt, was für alle Beteiligten zu einem unvergeßlichen Ereignis wurde. Dann hat sie die achtstimmige e-moll-Messe von Bruckner mit uns paar Laien in unglaublicher Intensität erarbeitet. Und auch das Requiem von Mozart wurde aufgeführt. Als sie mit Herbert und Sieglinde Klose und Lisa Jochimsen nach Gramais fahren wollte, hatte sie mich eingeladen, doch mitzukommen. Aber ich habe das ausgeschlagen, weil ich eine Reise nach Griechenland plante.
Die Begegnung mit Gisela Janssen hatte tiefgreifende Auswirkungen auf meinen Lebensweg. Sie hat mir den Mut gegeben, in der Musik nach hohen Zielen zu streben. Unser Quartett hat nach ihrem frühen Tode noch viele Jahrzehnte fortbestanden unter wechselnden ersten Geigen. So war es uns vergönnt, uns als Liebhaber an dem wunderbaren Schatz der großen klassischen Kammermusik zu üben und mit der Seele in der schönsten Musik zu leben. Das hat mich durch mein ganzes Berufsleben begleitet und mich erfüllt und mir Kraft gegeben. Gisela Janssen war es aber auch, die mich immer wieder auf die Anthroposophie hingewiesen hat, so daß ich meine anfänglichen Vorbehalte überwinden und studierend mir ein immer tieferes Verständnis erarbeiten konnte, und zwar ganz besonders der anthroposophischen Naturkunde. Und schließlich wurde mir auch das Wesen der Menschenweihehandlung zum Erlebnis.

Erinnerungen an Gisela Janssen von ihrer Cousine Frau Dr. med. Küstermann
(Telefongespräch im September 2010, inhaltlich wiedergegeben von L. Kolligs)

Doktor Küstermann, Dortmund. Sie wollen also etwas über meine Cousine Gisela Janssen erfahren? Ja, deshalb rufe ich an. Aber wie kommt es, dass Sie jetzt, nach so langer Zeit, danach fragen? Es ist ja über 50 Jahre her, dass das Unglück geschah. Aber beginnen wir am besten von Anfang an.

Der Vater war ein in Eisleben sehr anerkannter Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Gisela war die Älteste. Sie hatte eine wenig jüngere Schwester Gonhild, dann folgte Bruder Dirk und 20 Jahre später Heidi (Gisela schmunzelnd: "Ich bin jetzt zwanzigmal so alt wie meine Schwester!"), danach noch Rainer, der Neurochirurg wurde.
Mit 18 Jahren wurde für Gisela eine neue Umgebung notwendig. So kam sie zu uns nach Hamburg, in mein Elternhaus. Meine 9 Jahre ältere Cousine hatte ich aber bereits gut kennen gelernt, wenn wir gemeinsam bei den Großeltern in Oldenburg die Ferien verbrachten. Diese Ferien in dem großen Garten, zusammen mit Cousins und Cousinen, sind für mich mit den schönsten Erinnerungen verbunden!
Ich hatte da schon einige Zeit Geigenunterricht bei Herrn Übelacker gehabt. Er war mit einer Lehrerin der Schule verheiratet. Während des Unterrichtes konnte es geschehen, dass er sich unvermittelt zur Tafel umdrehte, um etwas zu notieren, das er dann meistens sogleich wieder löschte. Es waren Reime und Gedichtzeilen, denn über Jahre hin hatte er zum Beispiel für jedes Kind unserer Klasse, von immerhin 40 Schülern, den Zeugnissprüch verfasst. Da er uns in größeren Gruppen unterrichtete, ließ er uns im Kreis gehen und auch aufstellen, aus Sorge wir könnten uns mit den Bogenspitzen die Augen verletzen; und wiederholt mahnte er: "Kinder! Passt auf die Augen!"

Zu Hause hörte mir Gisela beim Üben hin und wieder zu. Ihre Mine verriet dabei eine leichte Unzufriedenheit. Sie selber spielte wundervoll! Um uns nicht zu stören, übte sie im Elternschlafzimmer. Oft aber schlich ich mich zu ihr hinein, verkroch mich unter eine Decke und hörte zu. Einmal stellte sie mir ein Notenblatt aufs Pult. "Sieh dir mal die Noten gut an! - Wenn du auf der Seite keinen Fehler machst, kriegst du ne Mark!" Eine ganze Mark, das war damals für uns viel Geld! Ich schaffte es und erhielt die Mark. Sie hatte anschließend wohl mit den Eltern darüber gesprochen, es läge nicht so sehr am Unterricht als daran, dass ich mir nicht so viel Mühe geben wüde, wie ich eigentlich könnte. Sie übernahm dann den Unterricht und manchmal hatte sie es mit mir nicht ganz leicht.

Wie Gisela an die Leitung des Bann-Orchesters geriet, ich weiß es nicht. Das Orchester war unter dem Motto "Glaube und Schönheit" für Jugendliche aus BDM und HJ eingerichtet. Eben war ich unter dem Unterricht der Cousine fast dreizehn geworden, als sie mich in das Orchester mitnahm und mit Herbert Klose, der ein halbes Jahr älter war und auch bei ihr Unterricht hatte, ans selbe Pult setzte. Er war musikbegeistert, übte fleißig und brachte mich auch dazu, mehr zu üben. Neben dem Orchester wurde zu Hause am Bruckner-Quintett geprobt. Diese anspruchsvolle, schwierige Musik war für mich gänzlich ungewohnt. Ich fühlte mich völlig überfordert. Aber mit gutem Zureden gelang es den älteren, Cousine Gisela, Edith Klein, Gudrun Keymling und auch Orchesterfreund Herbert, mich zu bewegen, dabei zu bleiben.

In Gesprächen mit meiner Mutter wurde bei Gisela das Interesse für Anthroposophie geweckt. Und mit Johannes Hemleben, Naturwissenschaftler und Priester in der Christengemeinschaft in Hamburg, fand sie entscheidende Anregungen zu tieferer Einarbeitung in Fragen der Anthroposophie. Viel später gelangte ich an den Briefwechsel zwischen Gisela und Herbert, als er im Krieg war. Darin sprach sich unglaubliche Spiritualität und tiefe Verantwortung des geistigen Lehrers für seine Schüler aus. Gisela schien die Weiten geistiger Fragen wie im Sturm erobern zu wollen.
In einem hinterlassenen Abschiedsbrief schrieb meine früh verstorbene Mutter, sie habe Giselas Spiel auch den berühmtesten Geigern zeitlebens doch immer vorgezogen.

Wissen Sie eigentlich, wie es 1953 zu der Reise nach Gramais gekommen ist? Durch Familie Tittmann, aus der Waldorfschule in Stuttgart, erfuhren wir von Gramais, ein Dorf mit dreizehn Häusern, weder Geschäft noch Hotel, ein kleines Gasthaus, Kirche und Pfarrer. Es läge in einem Nebental des Lechtales. Es sei dort eine kleine Wohnung "ohne alles" zu mieten, für 12 Schillinge, etwa 2 DM, pro Tag. Das heiße, es wäre alles sehr einfach und urtümlich. Allerdings gäbe es elektrisches Licht. Denn einer der früheren Pfarrer hätte den Gebirgsbach mit Turbine und Generator zur Elektrizitätsgewinnung versehen lassen.
Im Jahr zuvor war ich selber dort gewesen und hatte von der Urtümlichkeit von Landschaft und Leuten berichtet, auch davon, wie billig man dort leben könne.

In der Zeit vor der Reise traf ich mich häufiger abends mit meiner Klassenkameradin Sieglinde Klose, der Tochter von Heinz Müller. Sie stopfte meine Strümpfe, während ich für sie Geige spielte. Sieglinde führte inzwischen selber eine achte Klasse an unserer alten Schule. Sie wirkte auf mich, als angehende Ärztin, im Abschluss des Medizinstudiums begriffen, sehr erschöpft. Auf meine Frage nach ihrem Befinden erwähnte sie zu wenig Schlaf, die Anforderungen des Unterrichtes, ja, es wäre nun wiederholt passiert: ihr sei schwindlig geworden und sei dann einfach umgekippt. Auf meine Mahnung, sie möge liebevoller mit sich selber umgehen, entgegnete sie, sie sehe keine Möglichkeit auszuspannen. Und später kam es mir selber wie ihre dunkle Ahnung vor, als sie anfügte: "Weisst du, ich habe ja keine Zeit mehr."

Eigentlich sollte ich dabei sein. Denn das Medizinstudium hatte ich eben abgeschlossen. Nun hatte ich aber meine erste Stelle am Krankenhaus in Pinneberg in Aussicht. Es fehlte noch die Bestätigung durch den leitenden Arzt, der erst in drei Wochen zurückerwartet wurde. So musste ich wegen der schwebenden Bewerbung auf die Teilnahme verzichten.

Gisela Janssen, Sieglinde und Herbert Klose, Lisa Jochimsen hatten auf zwei Motorrädern Gramais mit Gepäck sicher erreicht. Dort war das Einbringen der Heuernte in vollem Gange. Als nach wenigen Tagen drohende Gewitterwolken heraufzogen, schlossen sich alle vier den Erntearbeitern an. Da in dem unwegsam hügeligen Tal nur wenige Wege gab, waren Fuhrwerke nicht zu gebrauchen. Das zum Trocknen aufgesetzte Heu wurde, in große Tücher verknotet, auf den Schultern zu den Heustadeln getragen. Und eben, ehe sich die Gewitter über dem Tal entluden, war das Heu im Trockenen. Mit der selbstverständlichen Erntehilfe aber hatten sie alle Herzen erobert.

Am Tag nach den abgezogenen Gewittern machte sich die Gruppe auf eine weit ausladende Wanderung über die Berge, obwohl man ihnen aus der Bevölkerung wegen der Witterung davon abgeraten hatte.

Bei anhaltendem Regen gelangte die Gruppe nach Stunden zurück ins Tal. In ihren Regencapes standen sie suchend am Ufer des reißend strömenden Gufelbaches, der auf zehn, zwölf Meter Breite angeschwollen war und in dem Sträucher, ja entwurzelte Baumstämme dahintrieben. Denn die kleine Brücke war verschwunden. Aber es lagen vereinzelt Bäume quer von Ufer zu Ufer. Es kam die Frage auf: "Sollen wir nicht warten! Da kommen wir so leicht nicht rüber!" Eine andere Brücke gab es weit und breit nicht! Gisela Janssen entgegnete: "Wir müssen ja doch rüber!" Beide hatten wir, Herbert Klose und ich, sptäer das Gefühl, sie habe wie aus tiefer Ahnung gesprochen. Herbert Klose hangelte sich an einem Baumstamm entlang zum jenseitigen Ufer. Sieglindes Cape musste sich in der Strömung aufbläht und sie gegen den Baum gedrängt haben, als sie ihrem Manne folgte. Der Stamm begann, sich zu drehen. Halt suchend griff Sieglinde nach dem Baumstamm, statt nach der ausgestreckten Hand ihres Mannes. Die heftige Strömung riss den Baum samt den drei Frauen mit sich. Herbert berichtete mir, er sei nur kurz, so schnell er konnte, am Ufer entlang hinterher gestürzt. Habe die Hoffnungslosigkeit erkannt, weder folgen noch helfen zu können. Dann sei er, so schnell es ging, laut schreiend zum Dorf gerannt, um Hilfe zu holen. Die Suche der Dorfgemeinschaft blieb aber ohne Ergebnis. Erst nach eingehender Suche waren die Körper von Gisela Janssen und Sieglinde Klose, schwer verletzt und von Geröll bedeckt, in erheblicher Entfernung vom Unfallort im Gufelbach gefunden worden. Von Lisa Jochimsen blieb jede Spur verloren. Auch als einige Männer später aus der steilen Kluft, in die der Bach hinabstürzt, nach vergeblicher Suche zurückkehrten, wo sie sich zum äußerst gefährlichen Abstieg abgeseilt hatten.

Pfarrer Hemleben begab sich von Stuutgart aus, wo er sich zu Vorträgen aufhielt, auf die Nachricht von dem Unglück hin, sogleich nach Gramais. Das Bestattungs Ritual für die Verunglückten konnte mit der Dorfgemeinde im kleinen Schulhaus gehalten werden. Die Bauern hatten die Absicht, die Grabstelle zum Andenken an die Verunglückten zu erhalten.

Der Unfall war am 29. Juli 1953 geschehen. Mich erreichte etwas später die Zusage aus Pinneberg. Die Zeit bis zum Antritt nutzte ich im September zu einer gemeinsamen Reise mit meinem späteren Mann nach Gramais. Im Umfeld des Gufelbaches lagen angesschwemmtes Strauchwerk und Baumstämme noch immer zu Hauf. Als bekannt wurde, wie nahe unsere Verwandtschaft war, wurde ich viel nach den drei Verunglückten befragt. Ganz besonderes Interesse verrieten aber Fragen zum Ritus für die Verunglückten. Dabei wurden zusammenhängende Teile des gesprochenen Textes von Einzelnen, die dies ja nur einmal gehört hatten, wörtlich wiedergegeben.

Vor eingen Jahren traf ich noch zwei der damaligen Bäuerinnen in Gramais an. Beide versicherten, sie erinnerten sich so lebhaft, als sei das Unglück erst vor vierzehn Tagen geschehen. Die Grabstelle hatte aber inzwischen doch aufgelöst werden müssen.

Der Besuch der Freien Goethe Schule, von 1932 bis zur Schließung während der nationalsozialistischen Zeit 1939, ist für mein ganzes Leben von prägender Bedeutung. Eine wirklich interessante Geschichte ist es aber, wie ich dahin gekommen bin!
In Wilhelmsburg wohnten wir damals. Beide Eltern waren Lehrer, mein Vater Studienrat, meine Mutter Volkschullehrerin. Mein Bruder war in der vierten Klasse, als meine Mutter zur Schule zitiert wurde: Ihr Sohn bleibt seit Längerem unentschuldigt dem Unterricht fern. Es wird zur Erläuterung des Fernbleibens aufgefordert. Am darauffolgenden Tage erbat meine Mutter das Gespräch mit dem Klassenleher. Sie begann mit einer Frage: "Herr Kolllege, bitte, wie bereiten Sie den Unterricht vor?" - "Ich prügele erstmal alle durch. Dann herrscht Ruhe! Ihr Kind allerdings, als Sohn eines Studienrates, habe ich nie angerührt!"
Das machte für meine Eltern deutlich, dass dringend Änderung erforderlich war. Mein Bruder gestand freimütig, er habe oft nach dem Waschbären gesehen, den der Zahnarzt im Keller des Hauses hielt. Er wollte den Wachbären gern genau beobachten und richtig kennen lernen. Die Eltern hörten sich im Freundeskreis um. Wage erfuhren sie, in Wandsbek solle es eine Goetheschule geben, über die Erfreuliches berichtet werde. Daraufhin wurde die Freie Goethe Schule zu Veranstaltungen besucht. Mit 5 Jahren wurde ich in das Oberuferer Paradeisspiel mitgenommen. Das hat mich natürlich mit dem Teufelsgebaren, das darin so drastisch vorkommt, über Jahre hin verfolgt. Und später habe ich es immer richtig gefunden, so junge Kinder das nicht sehen zu lassen. Mein Bruder wurde angemeldet und schwänzte nicht mehr! Nun wollte ich auch in die Schule. Ich wollte Lernen! Mit dem Eifer einer Vierjährigen fragte ich fremde Leute auf der Straße über die Buchstaben an Geschäften, Plakaten, Tafeln aus. Und manchmal bekam ich geduldig und schmunzelnd Auskunft. Verblüffung allerdings erregte, als ich in der Straßenbahn den Eltern vorlas: "Sind's die Augen, geh zu Ruhnke!" Das stand da damals ja überall. Gibt's die Reklame wohl heute noch?

Für mich begann 1932, am Nikolaustag, die Schule und zu Fräulein Dr. Meyer kam ich in die erste Klasse. Der Nikolaus selber kam zu uns! Aus einem groben Sack wurden an uns Kinder Süßigkeiten verteilt. Und wir wurden freundlich angesprochen und liebevoll ermahnt. Da dachte ich mir, so könne es ja nun immer weitergehen! Fräulein Dr. Meyer unterrichtete aber auch ganz besonders anschaulich und bildhaft. Zu den Buchstaben erzählte sie phantasievolle Geschichten und ließ uns die Formen in großen Bewegungen nachbilden, ließ uns z.B. auf dem Schulhof das große G aufstellen. Und danach begannen wir erst mit dem Schreiben. Dass ich das Lesen, selbständig erlernt, schon konnte, hatte sie und mich dabei überhaupt nicht gestört.
Sie war eben eine phantastische Lehrerin! Nur eine Situation: im dritten Schuljahr fehlte in der Klassenkasse ein Groschen. So etwas darf doch hier nicht vorkommen, mag sie gedacht haben. "Meinen Hut lege ich hier jetzt auf den Tisch. Dann gehen wir alle hinaus. Anschließend geht jeder von uns alleine hinein. Und wer den Groschen genommen hat, legt ihn wieder unter den Hut und kommt gleich wieder heraus" Die Prozedur verlief, wie vereinbart. Nur fanden sich danach mehrere Groschen unter dem Hut. Einige von uns hatten also das unangenehme Vorkommnis auf diese Weise wieder in Ordnung zu bringen versucht. Und im Nachhinein nur zu bewundern, wie sie nach einer Form gesucht hatte, die niemanden bloßstellen sollte.

Etwas leichtsinnig allerdings hatte Fräulein Dr. Meyer beim Rechnen geäußert, sie selber habe das auch nie so richtig verstanden. Das hatte zur Folge, dass wir das Rechnen eben auch nicht mehr so richtig ernst nahmen.
So verbunden fühlten wir uns mit der Klassenlehrerin, dass wir es ihr im achten Schuljahr übel nahmen, als ihre Hochzeit mit dem Turnlehrer, Herrn Froebe, stattfand, der bei uns nicht so sehr beliebt war, wir aber in diese Entscheidung nicht mit einbezogen worden waren!

Ja, Herrn Doktor Kändler habe ich auch noch erlebt! Die Sonntagshandlung für die Kinder wurde im Saal auf der Bühne gehalten. An der Saaltür stand Herr Kändler hoch aufgerichtet vor jedem Kind, hielt behutsam die Hände auf den Kopf dessen, der eintrat. Dann ging jedes Kind allein den Weg zur Bühne, wo es begrüßt wurde.
Wie der ernste und treue Wächter am Tore kam Herr Dr. Kändler mir dabei immer vor.

Meine Mutter und Frau Dr. Meyer-Froebe befreundeten sich miteinander. Meine Mutter begann, sich mit Anthroposophie auseinanderzusetzen. Und von meiner Mutter kamen für Gisela Janssen die ersten Anregungen zur Beschäftigung mit Anthroposophie.

Nach dem Krieg, nach einer Zeit der Zusammenarbeit an der Albert Schweitzer Schule mit Erna Stahl, erhielt Frau Meyer-Froebe den Auftrag, die Rendsburger Waldorfschule zu gründen. Auch an der Ausbildung von Waldorflehrern war sie dann lange intensiv beteiligt.

Jetzt lebe ich seit 46 Jahren im Ruhrgebiet. 1972 war ich zur 50-Jahr-Feier in der Wandsbeker Schule. Und im Vergleich mit den Kindern im Ruhrgebiet, den eigenen und in den Schulen, kamen mir die Kinder in Wandsbek kindlicher, gelassener, wie mit besseren Nerven begabt vor.

Bei einem der letzten Klassentreffen besuchten meine Klassenkameradin Hilla Tavadia und ich noch einmal Frau Dr. Meyer-Froebe in dem Altenheim an der Elbchaussee, wo sie gut versorgt zu werden schien. Wir erinnerten mit ihr die Zeit in unserer Klasse. Als wir fragten, woher sie stets spontan die Ideen für den Unterricht genommen hätte und nie habe zu schimpfen brauchen. "Ja, man muss stets sehr gut vorbereitet sein.", antwortete sie schlicht.
Ein Telemann-Duett für Flöte und Geige hatten wir ausgesucht. Nach dem Vorspiel, sie saß dabei auf der Kante ihres Bettes, sagte sie nach kurzem Schweigen: "Also, Kinder! Ihr habt aber große Fortschritte gemacht!" Unserem "Auf Wiedersehen!" entgegnete sie: "Ja! Dann müsst ihr euch aber sehr anstrengen, mich zu finden."

Aus dem 'Hamburger Abendblatt' vom 01.08.1953

Drei Hamburgerinnen im reißenden Wildbach ertrunken
Tragischer Tod in Tirol - Zwei Lehrerinnen und eine Studentin

Ein furchtbares Unglück ist geschehen. Bei Gramais in Tirol beendete der Tod die Ferienreise dreier Hamburgerinnen. Die 36jährige Lehrerin Gisela Jansen aus Berne, die 28jährige Lehrerin Sieglinde Klose aus Billstedt und die 26jährige Studentin Lisa Jochimsen ertranken nach einem Unwetter im Gufelbach. Der 27jährige Lehrer Herbert Klose, der Mann der verunglückten Sieglinde Klose, entging wie durch ein Wunder dem gleichen Schicksal. Das Hamburger Abendblatt telegraphierte sofort nach Tirol und erhielt heute morgen telephonisch den Bericht der Katastrophe.

Gramais ist ein idyllisches Bergdorf in dem ebenso benannten Tal des Lechtales im Verwaltungsbezirk Reutte. Der kleine Ort liegt in 1328 Meter Höhe und zählt knapp einhundert Seelen. Es war am Mittwoch kurz nach 18 Uhr: Völlig durchnäßt und mit zerrissener Kleidung hastete Herbert Klose in das ruhige Dorf und überbrachte die Unglücksmeldung. Die Bauern leiteten sofort eine Hilfsaktion ein.
Gendarmeriebeamte und Angehörige des Rettungsdienstes Unterstützten sie. Gisela Jansen wurde zuerst als Leiche geborgen. Man fand sie unter Geröll und Steinen einen Kilometer entfernt vom Unfallort. Das tosende Wildwasser hat ihr die Kleider vom Leibe gerissen. Erst am nächsten Vormittag wurde Sieglinde Klose gefunden. Sie war ebenfalls tot. Der reißende Bach hatte ihre Leiche drei Kilometer weit mitgerissen.
Die Uhren der beiden unglücklichen Frauen standen auf 17.50 Uhr. Lisa Jochimsen ist bis heute noch nicht gefunden worden. Die Suche nach ihr ist wegen eines neuen Hochwassers im Wildbach vorläufig eingestellt worden.
Nach einem Jahr anstrengender Schularbeit waren die vier jungen Menschen frohgestimmt und voller Erwartung in die Berge gefahren. Herr Klose schildert das Unglück wie folgt: Die vier waren am Mittwochmorgen auf den Seekogel gestiegen. Er liegt 2317 Meter hoch und in der Nähe von Gramais. Am Nachmittag beim Abstieg setzte ein heftiges Gewitter ein. Sie suchten Schutz unter Felsen. In den späten Nachmittagsstunden setzten sie ihren Abstieg fort und kamen an den Gufelbach, der normalerweise kein Wasser führt. Das Bachbett ist zehn Meter breit. Als sie über den Bach setzen wollten, gab es einen neuen, wolkenbruchartigen Regen. Der Wasserstrom im Gufelbach schwoll in kürzester Zeit wie eine Lawine an. Das tosende Wasser führte einen tödlichen Strom von Steinen und Geröll mit sich. Alle vier suchten auf einem Felsblock Schutz, der sich mitten im Bach über das Wasser erhob. Weil sie naß waren und heim wollten, faßten sie dann den Entschluß, trotz des Wildwassers auch durch die zweite Hälfte des Bachs zu waten. Herr Klose ging voraus und schritt, bis zum Bauch im Wasser stehend, auf das jenseitige Ufer zu. Er erreichte es. Fräulein Jochimsen folgte ihm und ging unter. Mitgerissen, fortgespült.
Die beiden anderen Frauen probierten es Hand an Hand und gingen Sekunden später, nachdem sie stich vorübergehend an einem Holzstamm halten konnten, ebenfalls unter. Auch sie wurden von den tosenden Wassern fortgespült.
Die Kloses wohnten an der Glinder Au in Billstedt in einer kleinen Wohnung, wie tausend andere junge Ehepaare auch. Man spürt die Liebe, mit der jedes Stück aufgestellt ist. Beide waren begeisterte Bergsteiger, keine unerfahrenen Anfänger. Erst im letzten Jahr waren sie während ihres Urlaubs in den österreichischen Alpen um ein Haar dem Tod entgangen. Sie hatten sich verstiegen und wären fast abgestürzt.
Frau Klose hatte eine achte Klasse in der Rudolf-Steiner-Schule in Wandsbek. Ihr Mann, auch Lehrer, befand sich bis zu den Sommerferien zur weiteren Ausbildung an einem Seminar in Lüneburg. Der Vater der jungen Frau ist in Stuttgart an einem Seminar tätig. Dort erreichte ihn gestern die Unglücksbotschaft. Er ist unverzüglich nach Gramais gefahren, an den Ort der Tragödie.
Fräulein Jansen war als Musiklehrerin ebenfalls an der Rudolf-Steiner-Schule tätig. Sie leitete eine elfte Klasse. Fräulein Jansen lebte am Blackshorn in Berne mit einer Kollegin zusammen. Die Wohnung ist verwaist, ihre Kollegin ist auch in Urlaub gefahren. Die Liebe zur Musik verband die vier Menschen. Auch Lisa Jochimsen wollte Musiklehrerin werden. Alle vier waren am 16. Juli gleich nach Schulschluß auf Ferienreise gegangen. Herr Klose allein mit seinem Motorrad, seine Frau mit einem bekannten Ehepaar im Auto und Fräulein Jansen und Fräulein Jochimsen auf dem Motorrad der Studentin.

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