Erinnerung an Fritz Steglich
11.07.1903 - 12.08.1976

Als Einleitung eine persönliche Äußerung. Von Schwächen und Fehlern können wohl auch Mitarbeiter der Waldorfschule nicht frei sein. Rudolf Steiner selber äußerte, dass Anthroposophie die Bewältigung des Lebens wohl zu bereichern - nicht aber unbedingt zu erleichtern vermöge. Selber gewann ich den Eindruck, dass die Beschäftigung mit den Gedanken Steiners das Seelen- und Gedankenleben belebte und empfänglicher machte für nicht direkt mit den physischen Sinnen zu erfassende Vorgänge, aber in gleicher Weise darin für Gutes wie für Schlechtes, und die Unterscheidung von beidem schwieriger wird.
Fritz Steglich kam 1952 an die Schule. Zweierlei hatte seine Kindheit überschattet. Der Sehsinn war von Geburt an sehr geschwächt. Sein Vater war Gastwirt und litt, wie wir heute sagen würden, an Alkoholkrankheit.
Ein tüchtiger Augenarzt vermochte aber seiner Sehfähigkeit erheblich aufzuhelfen, so dass er die Unbilden in der Familie zu ertragen lernte und Schule und Musikstudium mit gutem Erfolg bewältigte.
Als examinierter, junger Kapellmeister bekam er in den 20er Jahren in Dresden eine Stelle als Korrepetitor und Assistent des Generalmusikdirektors. Die Bezahlung war gering. Außerdem hatte er sich erheblich unbeliebt gemacht, als er sich aus Gewissensgründen weigerte, eine Aufführung des Brahms Requiems in Vertretung für den erkrankten Generalmusikdirektor zu dirigieren. Denn er hielt dieses Werk auf unlautere Inspiration hin entstanden.
Da er auch für seine Mutter zu sorgen hatte, die durch die Unsicherheiten der Erkrankung des Vaters nahezu mittellos war, musste er Nebeneinkünfte suchen. Er spielte in der Stummfilmzeit Wurlitzer-Orgel im Kino und begleitete in mancher Kirche sonntags den Gottesdienst. Der Pfarrer einer katholischen Gemeinde machte ihn aufmerksam. Es gäbe da in Dresden eine neue Schule, eine Waldorfschule, von der manches Positive berichtet werde. Dort werde ein sicherer Pianist gesucht! Ob das nicht etwas für ihn wäre?
Als bald sehr geschätzter Eurythmiebegleiter begann seine Tätigkeit für die Waldorfschule. In Ernst Schwebsch fand er einen kenntnisreichen Musiker und mit ihm im Gespräch Zugang zur Gedankenwelt Rudolf Steiners. In ernsthafter intensiver Auseinandersetzung mit Gedanken der Anthroposophie war er bald ein tragendes Mitglied im Kollegium. Er gab Musikunterricht und übernahm in der Oberstufe Epochen in Musik- und Kunstgeschichte. Dann erlebte er in der Zeit des Nationalsozialismus die zunehmende Einschränkung der Waldorfschulen bis zum drohenden Verbot, dem sich die Dresdener Schule bis 1941 zu entziehen verstand.
Aus dieser Zeit, von 1939 bis 1941, berichtet Frau Dr. Küstermann, eine ehemalige Wandsbeker Schülerin, die nach der Schließung dort nach Dresden in die Oberstufe wechseln konnte, Herr Steglich sei in der Dresdener Schule sehr geschätzt und geliebt worden. Und habe lebendig und anregend Musik und Kunstgeschichte unterrichtet.
Aus dem Kriege kehrte Fritz Steglich körperlich unverletzt, aber seelisch schwer angegriffen zurück. Er versuchte durch Arbeit auf einem Bergbauernhof Gesundung seiner Seele zurückzugewinnen.
In zurückgewonnenem Lebensmut begann Fritz Steglich 1952 die Arbeit an der Wandsbeker Schule. Musik unterrichtete damals Herr Dietrich Steinmann in der Unter- und Mittelstufe. Er hatte ja schon an der Freien Goethe Schule unterrichtet. Auch Fräulein Keymling gab etwas Musik. Der junge Herbert Klose ging wagemutig mit der Oberstufe bereits an größere Chorwerke. Das Requiem von Mozart war 1952 vorläufig seine letzte Arbeit. Denn die Lehrerausbildung hatte er erst noch abzuschließen.
Fritz Steglich griff die Arbeit seiner Vorgänger auf und vermochte mit seiner Erfahrung die Leistungen in Oberstufen-Chor und -Orchester zu steigern. Viele Schüler gingen bereitwillig und gern auf die gesteigerten Anforderungen ein. Aber in den großen Klassen mit zum Teil über fünfzig Schülern und den durch Nazizeit und Krieg angegriffenen Kinderseelen, bedeutete gerade der Musikunterricht für die Lehrer einen hohen Anspruch an Geduld und Toleranz.
Während dieser Zeit hatte Fräulein Janssen angefangen, mit Schülern aus unserer Klasse Teile aus dem Septett von Ludwig van Beethoven einzuüben. Und während einer solchen Nachmittagsübung äußerte ich Fräulein Janssen gegenüber, wie beeindruckt ich vom Können des neuen Musiklehrers sei. Worauf sie recht nüchtern erwiderte, so toll sei es ja nun doch auch wieder nicht. Und im Augenblick wie weggewischt und ins Gegenteil gekehrt war meine Haltung Herrn Steglich gegenüber. In der Folge habe ich häufiger den Klassengesang mit absichtlich falsch gesungenen Tönen gestört, nachdem ich im Orchester wohl bemerkt hatte, dass Herr Steglich falsche Töne sofort bemerkte, aber Schwierigkeiten damit hatte, die Herkunft zu ermitteln.
Zu einer besonderen Probe lud Herr Steglich doppelt besetztes Streichquartett mit Kontrabass und Flöte, Klarinette, Horn. Die Pulte hatte er im Kreis angeordnet und mit den Instrumentestimmen versehen. Die sorgfältige Notenschrift erkannten wir sofort. Und richtig, oben rechts stand "Fritz Steglich" neben der Überschrift "Musik zum Quellen-Wunder". Quellen-Wunder? Keine Ahnung! Und schon ging Alberei und Gelächter los, mit dummen Anmerkungen ergänzt. Schon nach wenigen Takten Einleitung fingen mehrere an, ich dabei, einfach Quatschtöne zu spielen. Kein Wort von Herrn Steglich. In Ruhe sammelte er die Noten ein und entließ uns. Sicher ahnte er, dass ihm eben der durch abschätzige Äußerungen einiger seiner Kollegen hervorgerufene Ungeist der Wandsbeker Schule begegnet war.
Aus der Parallelklasse erfuhr ich, einige Lehrer hätten sich im Unterricht abfällige Äußerungen über Herrn Steglich zu Schulden kommen lassen, obwohl er in dieser Klasse besonders viele Verehrer hatte. Auf diese Weise wurde aus der Lehrerschaft eine gewisse Spaltung in die Schülerschaft getragen.
Nichtsdestotrotz steigerte Fritz Steglich seine Unterrichtstätigkeit weiterhin. Besonders gern übte er Eurythmiebegleitung aus. Wie er später erläuterte, habe er dabei wichtige Eindrücke von den Schülern sammeln können. In der Oberstufe übernahm er Epochen in Musik- und Kunstgeschichte, erarbeitete beeindruckende Inszenierungen von Klassenspielen und die Schülerkonzerte fanden im Hamburger Publikum viel Anerkennung und Anklang. Glanzpunkte waren das Singspiel "Bastien und Bastienne", von Mozart, und ein Konzert im Mozartsaal. Manche seiner Aufführungen waren von besonderem harmonischen Glanz erfüllt. Das alles ohne Möglichkeit, angemessen zu proben, denn die Aula der Schule war ja im Kriege Brandbomben zum Opfer gefallen.
Obwohl durch die Tätigkeit von Fritz Steglich das Ansehen der Schule beträchtlich gesteigert worden war, entschied dennoch das Kollegium gegen seine endgültige Aufnahme und entließ ihn 1956.
Mit seiner Frau zog er nach Frankfurt, denn dort sollte sie als Gründungslehrerin der Waldorfschule eine erste Klasse übernehmen. Ihm selber wurde eine Tätigkeit an dieser Schule verweigert.
Jahre später erfuhr er von Briefen aus dem Hamburger Kollegium, in denen er verleumdet worden war wegen unstatthafter Beziehungen zu jüngeren Kolleginnen. Mir selber berichtete darüber Ingeborg Schröder, unsere Klassenlehrerin nach Gisela Janssens Unfalltod, dass ihre Kollegin Helga Sewering im Wandsbeker Lehrerzimmer Zeuge eines Gespräches zwischen zwei älteren Kolleginnen wurde, in welchem die beiden Entrüstung aussprachen darüber, dass Herr Steglich zuerst häufig mit Fräulein Sewering zu sehen gewesen sei, seit aber Fräulein Schröder hier wäre, sei er zu dieser gewechselt. Daraufhin habe Helga Sewering sich erhoben und geäußert: "Geschätzte Kolleginnen, wenn jemand über die eben unbeabsichtigt mitgehörten Sachverhalte genau Bescheid wisse, dann wäre dies doch sie selber. Warum denn sie dann nicht gefragt werde?" Und verließ das Lehrerzimmer.
Inge Schröder schilderte, wie es ihnen als Jüngste im Kollegium ergangen sei. Da wäre niemand gewesen, der sich ihrer angenommen hätte, um Unterrichtsvorbereitung und -vollzug mit ihnen zu beraten. Nur an Fritz Steglich hätten sie sich, als erfahrenen Waldforflehrer und ernsten Anthroposophen, mit ihren Fragen wenden können und stets hilfreiche Hinweise und Mitteilungen zu Grundlagen erhalten.
In Frankfurt, so teilte mir Fritz Steglich mit, sei ihm angeboten worden, die Abteilung 'Ernste Musik' am hessischen Rundfunk zu übernehmen. Da habe sich für ihn die Frage gestellt: von der Kino-Orgel bin ich damals zur Waldorfschule gewechselt - ich kann doch jetzt nicht von der Waldorfschule zum Rundfunk gehen? Stattdessen übernahm er den Unterricht für Kinder, die längere Zeit im Krankenhaus zubringen mussten. Er berichtet, dass er mit den kranken Kindern unerwartet viel Neues gelernt habe.
Eine andere Seite war seine Tätigkeit innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Die Darstellung der Ergebnisse seiner kunstgeschichtlichen Forschungen, besonders in Italien, lag ihm besonders am Herzen. Häufig hatte er auf Reisen den Wiederaufbau und die Restauration von Kirchen besucht und das Gespräch mit den dort arbeitenden Handwerkern gesucht. Davon ließ er manches in seine Vorträge einfließen. So hatte ein Zimmermann ihm mitgeteilt, dass er die Stämme für die verwendeten Balken zu Neumond im November hatte fällen lassen. Solches Holz zeichne sich aus durch Festigkeit, Haltbarkeit und wenig spätere Verformung.
Ich verdanke Fritz Steglich die Erfahrung, was es bedeutet, dass ein Älterer ihm angetanes Unrecht, damit meine ich die häufige Störung seines Unterrichtes durch falsche Töne und provozierende Äußerungen, völlig beiseite zu lassen vermochte und ein freundlich zugewandter Berater blieb.
Auf die Frage, was zu der Auseinandersetzung zwischen ihm und Gisela Janssen geführt habe, teilte er mit, es habe zwischen beiden in einem Gespräch über Variation und Metamorphose Uneinigkeit geherrscht. Gisela Janssen habe vertreten, beides sei im Grunde genommen dasselbe, während er die erheblich weiter entwickelte Ausdrucksform der Metamorphose hervorgehoben habe. Sie sei eben Musikantin gewesen - er dagegen Musiker.
Nach seiner Entlassung setzte in Wandsbek ein Wechsel von Musiklehrern in stetig kürzeren Intervallen ein. Erst mit dem Verwirklichen des von Frau Wüst entwickelten und von Anfang der 70er-Jahre bis 1990 von ihr durchgeführten Unterrichtes, wurde Grund gelegt, der auf den Privat-Instrumental-Unterricht im 2. und 3. Schuljahr aufbaut, und von der 4. Klasse an zunächst in Klassenorchestern bis zur 6. Klasse, dann im Orchester der 7. und 8. Klassen erteilt wird.
Es gelang aber nicht immer, diesen Unterricht durch die Oberstufe zusammenhängend hindurch zu führen. Zwar brachte jeder an der Schule, Eltern und Lehrer, mit gutem Willen ein, was er vermochte. Dies ging aber über engagierten Dilettantismus oftmals wenig hinaus.
Mit dem Einzug in das neue Gebäude und dem Eintritt von neuen Musiklehrern gelang es, den Musikfachunterricht durch alle Altersstufen zusammenhängend hindurch aufzubauen.
Auf der Trauerfeier zu seinem Tode schilderte Herr Dahrendorf, ein ehemaliger Wandsbeker und derzeit Lehrer an der Frankfurter Schule, zwei Ereignisse aus dem Leben von Fritz Steglich, die mir im Gedächtnis blieben.
Musikunterricht in der Klasse von Herrn Dahrendorf. Zwei drei Rabauken hatten ihren Beitrag zur Unterrichtsvorbereitung darin gesehen, den Klavierhocker mit vereinten Kräften bis zum Anschlag hochzudrehen. Der Sitz stand dicht unter der Klaviatur. In aller Besonnenheit, ohne ein Wort, sammelte Herr Steglich die eigene Kraft, gab dem runden Sitz, den linken Fuß fest gegen einen der drei Füße des Klavierhockers gestützt, mit beiden Händen einen kraftvollen Ruck in die Rechtsdrehung, löste die Verklemmung und schraubte seelenruhig den Sitz auf die passende Höhe zurück.
Und aus der Zeit nach Kriegsende auf dem Bergbauernhof, am Himmel aufgetürmt tief dunkele Gewitterwolken. Unversehens zucken Blitze herab von hallenden Donnern gefolgt. Herr Steglich kämpft sich mühsam gegen Wind und einsetzenden Regen bergauf zu den zwei Milchschafen. In ihrem Schrecken haben sie die Ketten fest um die Eisenpflöcke herumgezerrt und verheddert, die Vorderbeine eingeknickt, die Köpfe bereits dicht am Boden - aus dieser Fesselung befreit Fritz Steglich unter stetigem beruhigendem Sprechen die beiden Schafe mit einiger Mühe und zieht sie dann an ihren Ketten bergab hinter sich her, dem sicheren Schutz ihres Stalles entgegen.

Nachsatzt: Ich denke, "unangenehme" Erinnerungen gehören zu einer Schulbiographie ebenso, wie die erfreulichen. Denn mir scheint das Ergötzen an Dramatik in den Kunstformen ja nur als etwas aus Konflikten in Lebensbedingungen Abgeleitetes und abstrakt Überhöhtes.

Inhaltsverzeichnis