Ansprache von Manfred Elson zum ersten Schultag am 8. Januar 1985 im Neuen Gebäude in Farmsen
Liebe Schüler!
Als ich am 31. Dezember des eben vergangenen Jahres kurz vor neun Uhr nach Hamburg hineinfuhr, zeigte sich mir für einen kurzen Augenblick eine große und schöne Naturerscheinung: Es war ein bedeckter Tag, am Himmel eine langsam dahinziehende graue Wolkenschicht. Es hatte vor wenigen Tagen etwas geschneit; in der Nacht hatte es gefroren, so daß die Felder, Büsche und Bäume weiß überhaucht waren. Und da der Himmel bedeckt war, gab es in der Landschaft nur weiße, graue und schwarze Tönungen, keine Farben. Aber plötzlich kam doch etwas Leben in die bisher einheitlich graue Wolkendecke: Die ganze östliche Himmelshälfte begann sich zunehmend rot zu färben und war nach kurzer Zeit ganz durchflammt. Es war ein recht ungewöhnliches Rot, zart und doch intensiv, wie ein gerade aufleuchtendes Rosenrot. Und da der Blick nach Osten frei war und die Wolkendecke in diesem Augenblick am Horizont etwas aufriß, konnte man für eine kurze Dauer die aufgehende Sonne sehen, die als große rosenrote Scheibe die Farbe des östlichen Himmels in sich konzentrierte und steigerte. Dann zogen bald wieder graue Wolkenfetzen über die Sonne hin, und die nur wenige Augenblicke währende Erscheinung war vorüber, allseitig wieder Grau.
Durch diesen Sonnenaufgang wurde ich an eine Frage erinnert, die sich mir als älterer Schüler dieser Schule im Zusammenhang mit dem Dreikönigsspiel gestellt hatte. Das Spiel ist ja so angelegt, daß das Geschehen sich zunächst auf die Könige richtet, auf ihr Suchen nach dem Kind. Das erfüllt die Könige ganz und gar. Sie fragen bei Herodes und werden schließlich doch vom Stern zum Kind geführt; sie beten es an und bringen ihre Gaben dar. Dann verlassen sie das Kind, und das letzte, was von den Königen erzählt wird - ihr Traum, ihre Absicht, nicht zu Herodes zu gehen -, nimmt nur noch einen kleinen Raum ein. Das Spiel wird jetzt ganz von dem Geschehen um Herodes eingenommen, von dessen Kampf und von seinem Scheitern. Die Frage, die ich dabei hatte, war diese: Mit welcher Empfindung verlassen die drei Könige das Kind, nachdem ihr langes Suchen endlich zum Ziel geführt hatte? Ist es nur dieses, ein Ziel erreicht zu haben und über das Erreichte zufrieden heimzukehren, oder ist es mehr?
Die Antwort auf diese Frage drängte sich mir in Anblick des Sonnenaufgangs auf: Die Gewißheit, mit dem, was sie von der Begegnung mit dem Christuskind mitgenommen hatten, in ein neues Zeitalter aufzubrechen, mag als Empfindung in den Königen gelebt haben, eine Stimmung, die sich auch einstellen kann, wenn man das Morgenrot betrachtet. Mit einer inneren Morgenrotempfindung mögen die Könige das Kind verlassen haben.
Daß wir jetzt in unsere neue Schule einziehen konnten, ist ja ein Ereignis, auf das wir viele Jahre gehofft und auf das wir mit vielen Kräften hingearbeitet haben. Daß es die Dreikönigszeit ist, in der dies geschieht, das kann uns äußerlich zeigen, worauf es nun in der vor uns liegenden Zeit ankommen wird. Es darf uns nicht genügen, ein Ziel erreicht zu haben. Das neue Kleid, das die Schule bekommen hat, will auch innerlich erfüllt sein. Und vielleicht können wir dieser Aufgabe gerecht werden, wenn in uns etwas von der Morgenrot-Empfindung der Könige wach wird, wenn wir über die Zufriedenheit mit dem Erreichten hinausgehen und auch einen neuen inneren Aufbruch wagen.
Dies ist eine schwere Aufgabe, die wir nicht ernst genug nehmen können und die vor der ganzen Schulgemeinschaft steht, vor den Lehrern, Eltern und Schülern. Und für diese Arbeit wünschen ich uns allen Kraft und Mut und Zuversicht, damit gelingen kann, was so schön in diesen Tagen begonnen hat.
Am 11. Februar 1988 starb Manfred Elson nach einem Verkehrsunfall.

zurück